Freitag, 2. Juli 2010. „Es ist nur ein Fußballspiel. Aber es tut weh. Es ist nur ein Fußballspiel. Aber es ist traurig.“ Mit diesen Worten fasst der Sportkommentator Galvão vom Sender „TV Globo“ die Befindlichkeit der Nation zusammen, nachdem das Unfassbare eingetreten ist. Die Seleção ist ausgeschieden. Die unerwartete Niederlage gegen Holland ist ein Schock. Man war sich so sicher, dieses Mal den sechsten Stern zu bekommen – bei allen Zweifeln am Trainer.
In der Stunde der Trauer zeigt sich aber auch eine Stärke der Brasilianer. Wer glaubt, dieses fußballbegeisterte Land würde nun in kollektive Trauer versinken, der irrt. Hat dieses Mal nicht geklappt, also versuchen wir es in vier Jahren wieder. Es bringt nichts, der verschütteten Milch nachzuweinen – so eine hiesige Redensart. Das Fernsehen reagiert in diesem Sinne. Blitzschnell schalten die Werbespots auf 2014 um, wenn die 20. Fußball-WM in Brasilien ausgetragen wird.
Noch-Trainer Dunga weiß sicher, dass er in seiner Position keine Zukunft hat. Der Vorwurf an ihn lautet – mit Blick auf die deutsche Mannschaft: Jogi Löw hat seine Jungstars mitgenommen. Dunga nicht.
Die Mannschaft jedoch wird keineswegs verdammt. Sie sind es ja in erster Linie, die verloren haben. Wer schon am Boden ist, auf den soll man bitte schön nicht auch noch eintreten, der braucht vielmehr liebevolle Unterstützung („carinho“). Auch das gehört dazu, die geschlagenen Helden emotional aufzufangen.
Samstag, 3. Juli 2010. Dass die Mannschaft Uruguays sich in einem Drama-Mix aus Handspiel und Elfmeterkrimi gegen Ghana durchsetzen konnte, wurde wohlwollend aufgenommen. Die „uruguaios“ gelten als nette Nachbarn, das Land als die Schweiz Südamerikas.
Ganz im Gegensatz zu den Argentiniern. Sie gelten in weiten Teilen der brasilianischen Bevölkerung als arrogant und daher als außerordentlich unbeliebt. Das Ausmaß dieser Aversion ist bei den Älteren stärker als bei den Jüngeren. Die Gründe sind zu suchen in jener Zeit, als Argentinien der reiche Nachbar des einst armen Brasiliens war. Als Buenos Aires sich das Paris Südamerikas nannte. Und als wohl Argentinier diese vermeintliche Überlegenheit gegenüber Brasilien in verächtlicher und herablassender Weise zum Ausdruck brachten.
Da Fußballspieler auch nur Menschen sind, werden derartige Ressentiments natürlich auch in sportliche Ereignisse hineingetragen. In der Folge kam es im Laufe der Jahrzehnte immer wieder mal zu unschönen Szenen bei Begegnungen der „Seleçao“ und der „Selección“. Irgendwann ist dann jener Punkt erreicht, wo die ursprüngliche Ursache gar keine Rolle mehr spielt, da sich inzwischen genügend Spannungspotential angehäuft hat. Etwa so wie bei verfeindeten Familienclans, wo die Enkel gar nicht mehr wissen, warum die Großväter einst sich zerkriegten. Erfreulicherweise gibt es inzwischen aber auch Stimmen, welche sagen, es sei doch nun mal ander Zeit, mit diesen „idiotischen Vorurteilen“ aufzuhören.
Noch sind dies aber eher die Rufer in der Wüste. Noch ist es aber die Person Maradona, welche all diese einst erlittene emotionale Kränkung auf sich konzentriert wie durch ein Brennglas. So läuft um 10 Uhr Ortszeit die deutsche Mannschaft mit der kollektiven emotionalen Unterstützung von 190 Millionen Brasilianern ins Stadion ein, um gegen Argentinien anzutreten.
Wenn es um die Unterstützung eines Fan für eine Mannschaft geht, so kennt die portugiesische Sprache kein Wort, um auszudrücken, dass man gegen eine Mannschaft ist. Man kann nur für eine Mannschaft sein, fiebern, hoffen, bangen – mit einem Wort „torcer“.
Nach der sehr guten Erfahrung vom letzten Sonntag, als wir ein Churrasco veranstalteten und die deutsche Mannschaft jene von England in einem herrlichen Spiel deutlich besiegte, beschließen wir, dies einfach genau so zu wiederholen.
Wir werden Augenzeugen jenes fulminanten Auftritt der deutschen Mannschaft. Unsere brasilianischen Gäste sind an diesem Vormittag eindeutig die besseren deutschen Fans. Ihre Energieleistung ist kaum zu überbieten. Ich bin überrascht vom Ausmaß der Emotionen, habe aber nun wirklich keine Zeit für solche Gedanken, muss ich doch das Grillgut vor dem Verkohlen bewahren und das fantastische Spiel mitverfolgen.
Am Ende des vierfachen Torjubels fällt auf unserer Veranda der Satz: „Dieses Spiel hat meine Seele gereinigt.“ Die Niederlage des eigenen Teams am gestrigen Tages ist praktisch vergessen. Brasilien feiert die „Erniedrigung Maradonas“. Bleibt zweierlei zu hoffen. Erstens. Dass damit die alten Rechnungen beglichen sind und Argentinier und Brasilianer sich nun mit Respekt auf Augenhöhe begegnen können. Und zweitens, dass die deutsche Mannschaft am kommenden Mittwoch gegen Spanien erneut ein bezauberndes Spiel zeigt.
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