Fußball ist alles
Montag, 14. Juni 2010.
Nach dem begeisternden Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft (»seleção alemã«) mit dem 4:0-Sieg über Australien am gestrigen Sonntag nehme ich heute von allen Seiten Glückwünsche entgegen wie sonst allenfalls an meinem Geburtstag. Auch meinen Kinder wird von ihren Schulkameraden gratuliert. Brasilianer sind großzügig und fair. Sie erkennen an, wenn andere Großes leisten.
Und sie bleiben höflich, wenn andere unter den Erwartungen bleiben. Wie im Falle von Frankreich, England und Italien, welche allesamt nicht über ein Unentschieden hinauskommen.
Die Erwartungen an das morgige erste Spiel der brasilianischen Seleção sind dadurch natürlich noch höher geworden.
Punkt 14:30 h Ortszeit wird das öffentliche Leben zum Erliegen kommen, wenn die Partie Brasilien gegen Nordkorea angepfiffen wird. Die meisten Firmen beenden den Arbeitstag rechtzeitig vorher. Selbst die Banken schließen. Es würden ja sowieso keine Kunden kommen. Es gibt kein anderes Ereignis, welche die Aufmerksamkeit der 190 Millionen Brasilianer – und auch Brasilianerinnen – derart bindet wie ein Fußballspiel bei der WM. Selbst der Karneval kann da nicht mithalten.
Dienstag, 15. Juni 2010.
WM-Tag Nummer fünf beginnt mit Unentschieden Nummer fünf und Nummer sechs. Das wird doch nicht so weiter gehen?
Gegen 13 Uhr mache ich mich auf den Weg zur »Cidade da Copa«, zur »WM-Stadt«. Vor sechs Monaten beherbergte dieser Platz eine Art Weihnachtsmarkt. Die Häuschen und Hütten wurden nun kurzerhand in gelb und grün dekoriert – fertig ist die WM-Stadt. Dazu noch ein gigantischer Monitor – fertig ist das Public Viewing. Über die termingerechte Fertigstellung aller Arbeiten wacht keine Geringere als die First Lady (»Primeira Dama«) der Stadt, die Frau des Oberbürgermeisters (»Prefeito«). 30.000 Zuschauer werden erwartet.
Als ich eine Stunde vor Spielbeginn am Ort des Geschehens eintreffe, bin ich sehr überrascht. Alle Sitzplätze sind bereits besetzt. Sehr ungewöhnlich für Brasilianer, die sonst eher auf den letzten Drücker erscheinen. Aber die WM setzt allerlei Gesetze außer Kraft.
Die Stimmung ist ausgelassen, kanariengelb die dominierende Farbe. Frenetischer Jubel beim Anpfiff. Das erste Tor gegen den fußballerischen Nobody aus Nordkorea kann ja nur eine Frage von wenigen Minuten sein.
Nach 20 Minuten werden die Fans langsam aber sicher ungeduldig. Der Lärmpegel steigt merklich. Als zur Halbzeit immer noch kein Tor gefallen ist, ist der brasilianische Fan zwar irritiert, isr überzeugt davon, dass in Halbzeit zwei alles nachgeholt wird. Ist halt das erste Spiel. Und dann ist es auch noch ungemütlich kalt in Johannesburg.
Nach insgesamt 55 Minuten erlöst Maicon mit seinem Schuss aus eigentlich unmöglicher Position eine ganze Nation. Gott ist halt doch Brasilianer.
Mit Tor Nummer zwei kurz darauf ist die fußballerische Weltordnung wieder hergestellt. Dass Nordkorea noch trifft und der Enstand nur 2:1 lautet, tut der Stimmung keinen Abbruch. Hauptsache gewonnen. Es gefeiert, als hätte Brasilien den Titel schon in der Tasche. Auto-Korsos, Tanzen auf der Straße, Feuerwerk.
Mittwoch, 16. Juni 2010.
Die WM hat ihre erste Sensation. Der große Favorit Spanien scheitert an der Schweiz. Otmar Hitzfeld, der alte Trainerfuchs, hat es wieder einmal geschafft. Erst die Spanier anrennen lassen, bis sie ermüden, dann die Chance zum Konter eiskalt nutzen. Und schon hinter wieder zumachen.
Die Spiele dieser Gruppe werden natürlich hier besonders aufmerksam verfolgt, da in der nächsten Runde Brasilien, das sich selbstverständlich qualifizieren wird, auf eine dieser Mannschaften treffen wird.
In der ganzen Berichterstattung über das gestrige Spiel der Seleção sticht das hiesige Portal CapitalNews heraus, das die Befindlichkeit auf den Punkt bringt : „Brasilien beginnt mit einem mageren Sieg, die Fans haben ihre Zweifel, feiern aber einfach trotzdem.“ Recht so.
Donnnerstag, 17. Juni 2010.
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Am Sonntag geht es gegen das Team der Elfenbeinküste („Costa do Marfim“), das immerhin den Portugiesen, Vierter der letzten WM, ein Unentschieden abgerungen hat.
Erst aber steht morgen früh, 7:30 h Ortszeit Campo Grande, Deutschland-Serbien auf dem Programm. Wir freuen uns auf noch mehr Zauberfußball.
Dass die deutsche Mannschaft mit Abstand das beste Spiel des ersten Durchgangs der Vorrunde abgeliefert hat, wird auch in Brasilien neidlos anerkannt.
Nun ist Frankreich – ähnlich wie 2002 – bereits nach dem zweiten Spiel so gut wie ausgeschieden. Die Brasilianer haben die heutige Niederlage gegen Mexiko durchaus mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, war doch der amtierende Vize-Weltmeister bereits dreimal - 1986, 1998 und 2006 - Endstation für die Seleção.
Freitag, 18. Juni 2010.
Morgens viertel vor Sieben die Kinder in die Schule bringen, Anpfiff um halb acht. Das passt genau. Draußen strahlender Sonnenschein. Drinnen alles bereit für einen weiteren bezaubernden Auftritt der deutschen Multi-Kulti-Elf. Nun ja – hat nicht sollen sein. Der Weg zu Erfolg ist selten geradlinig. Wird halt das deutsche Sommermärchen 2010 für einige Tage unterbrochen.
Samstag, 19. Juni 2010.
Die von den Deutschen im Auftaktspiel arg gebeutelten Australier erringen dankenswerter Weise ein Unentschieden gegen Ghana und geben der deutschen Mannschaft damit die Möglichkeit, aus eigener Kraft den Gruppensieg zu erringen.
Aus brasilianischer Sicht ist dies jedoch nur eine Randnotiz. Schließlich läuft die Seleção morgen zum zweiten Mal auf. Ein klarer Sieg wird erwartet und – ein schönes Spiel. Mit anderen Worten: Bitte schön mindestens ein Tor bereits in der ersten Halbzeit, und wenn möglich mehr als zwei insgesamt.
Sonntag, 20. Juni 2010.
Sonntagmorgen spielt mein Lieblingsradiosender „Rádio MS“ stets „Ritmos da fronteira“, übersetzt „Rhythmen aus dem Grenzgebiet“. Gemeint ist die Grenze des Bundesstaates Mato Grosso do Sul mit Paraguay. Campo Grande beherbergt eine große Gemeinde von „paraguaios“, die natürlich an diesem Morgen das Spiel ihrer Mannschaft gegen jene der Slovakei verfolgen. Paraguay hatte im ersten Spiel dem amtierendem Weltmeister bereits ein 1:1 abgetrotzt, gewinnt nun mit 2:0 – und übernimmt die Tabellen¬führung, da die „Azzurri“ auch gegen Neuseeland nicht gewinnen können. Langsam könnte man sich um Europas Fußballmannschaften machen, wenn man dies wollte.
Für solche Überlegungen bleibt wenig Zeit, schließlich wird um 14:30 h Brasilien gegen Elfeinbeinküste („Costa do Marfim“) angepfiffen. Ein Land steht zusammen. Selbst die Kirche und der örtliche Sex-Shop, sonst auf jeweils ihre eigene Weise diskret, wollen da nicht abseits stehen. Pfarrer erbitten im Sonntagsgottesdienst den göttlichen Segen für einen Sieg der Seleção. Die Schaufensterpuppe im Erotikladen ist in grün-gelbe „Lingerie“ gekleidet.
Die brasilianische Mannschaft erfüllt die Erwartungen, das ist die Hauptsache. Brasilien ist für die nächste Runde qualifiziert. Gelb-rot für Kaká, Handspiel durch Luis Fabiano – Details, welche der weite Mantel der Geschichte schon in Kürze dem Vergessen überantworten wird.
Montag, 21. Juni 2010.
Portugals sieben Tore gegen Nordkorea – die Schwalbe, die den Auftritt der europäischen Mannschaften zum Sommer macht? Und das heute an dem Tag, da auf der Südhalbkugel der Winter beginnt?
Nun, da jede Mannschaft zwei Spiele absolviert hat, sieht vieles danach aus, dass dies eine WM der Mannschaften Südamerikas wird. Es sind dies in alphabetischer Reihenfolge: Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay, Uruguay.
Die Beweislast ist geradezu erdrückend. Erstens: Keine der südamerikanischen Mannschaften hat bislang verloren. Zweitens: Drei der vier Teams, welche beide Spiele gewonnen haben, kommen aus Südamerika. Drittens: Alle südamerikanischen Teams belegen in ihren Gruppen jeweils Platz eins.
Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders.
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