Nur noch wenige Tage sind es bis zum Anpfiff der Fußballweltmeisterschaft. Das Land ist in grün und gelb („verde-amarelo“), den vorherrschenden Farben der brasilianischen Flagge, dekoriert. Die Bierproduzenten fahren Sonderschichten. Während manch andere Wirtschaftszweige unter diesem Ereignis eher zu leiden haben, ist für die Getränkeindustrie die WM wie ein Monat extra.
Skol, die dominierende Biermarke, bringt sogar eine neuartige Bierdose auf den Markt: eine, welche zum Konsumenten spricht. Natürlich ist nicht jedes Exemplar derart besonders. Man muss halt nur genügend Einheiten ihrer Bestimmung zuführen, dann wird schon eine dieser „latas falantes“, dieser sprechenden Dosen dabei sein.
Für Brasilien liegt der gefühlte Beginn lange vor der offiziellen Eröffnung am 11. Juni 2010. Bereits Mitte Mai, als der Trainer Carlos Dunga das Aufgebot verkündet, herrscht »Feuer unterm Dach«. Wie kann er nur den Jungstar Neymar, der achtzehnjährig bereits als der neue Pelé gefeiert wird, zuhause lassen?
Der Trainer hat seine Gründe. Der Erfolgsdruck bei einer Fußball-WM ist groß. Und für die brasilianische Mannschaft sehr groß. Sicher, Pelé hat damals 1958, als Siebzehnjähriger, Brasilien zum ersten Titelgewinn geführt. Damals. Heute ist Brasilien fünfmaliger Weltmeister (»Pentacampeão«). Und 190 Millionen Brasilianer erwarten Titel Nummer sechs (»Hexacampeão«). Mit diesem Druck umzugehen, braucht Erfahrung. Sagt Dunga.
Beißender Spott lässt nicht lange auf sich warten. Hier in Campo Grande entstand eine Werbetafel, welche es sogar in die nationalen Abendnachrichten (»Jornal Nacional«) schafft und so zu landesweiter Berühmtheit bringt. Auf ihr steht sinngemäß zu lesen: »Mach es wie Dunga. Lass´ die Finger von Crack.« Auch im Portugiesischen bezeichnet »craque« gleichermaßen den herausragenden Experten (»Crack«) wie auch die Droge.
Hierzu muss man wissen, dass Dunga verschiedentlich Werbung gegen Drogen machte. Was man auch über ihn wissen muss, ist das er sich wahrscheinlich immer noch heimlich Maultaschen einfliegen lässt, hat er doch 1993 bis 1995 für den VfB Stuttgart gespielt.
Sein richtiger Name ist übrigens »Carlos Caetano Bledorn Verri«, woraus man ersehen kann, dass er deutsche und italienische Vorfahren hat. Brasilien, das bekennende Einwanderungsland.
Der Spitzname wurde ihm von einem skeptischen Onkel verpasst, der offenbar nicht daran glaubte, dass der Junge dereinst mal eine normale Körpergröße erlangen würde. Dunga ist nämlich der Name eines von Schneewittchens sieben Zwergen. Die Gebrüder Grimm sahen keine Notwendigkeit, ihnen Namen zu geben. Walt Disney schon. Dunga ist jener, der keinen Bart trägt, nicht spricht und große Ohren hat.
Dunga, vorgesehen als Übergangslösung auf dem Trainerstuhl. Nun schon seit fast 4 Jahren. Unter seiner Führung hat die brasilianische Mannschaft, die »Seleção« von 57 Spielen gerade mal 5 verloren. Das verschafft Respekt in einem Land mit weit mehr als 100 Millionen Fußballexperten.
Auch beim Präsidenten Lula, der gut zwei Wochen vor Beginn der WM die Mannschaft in Brasília empfängt, jeden Spieler einzeln begrüßt, umarmt und mit seinen Wünschen und Ratschlägen ausstattet. Das ist nicht nur Show – Wahlkampf hin oder her – da geht es um mehr. Fußball ist zwar auch in Brasilien ein Spiel, aber ein Spiel des Lebens. Strategien, die im Fußball zu sportlichem Erfolg führen, greifen oft auch im »richtigen« Leben.
Selbst in der Musik. Luis, mein Cavaquinho-Lehrer, ein Anhänger des Traditionsclubs Flamengo aus Rio de Janeiro, also ein »Flamenguista«, bemüht regelmäßig Bilder aus dem Fußball, um etwa die Funktion bestimmter Akkorde zu illustrieren.
Brasilien ist eine Großmacht im Fußball. Und das, obwohl vor dem ersten Triumpf eine traumatische Niederlage stand. 1950. Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land. Die erste nach dem zweiten Weltkrieg. Ganze 13 Mannschaften nehmen teil: 6 aus Europa, 5 aus Südamerika, dazu Mexiko und die USA. Während Europa noch vom Krieg gezeichnet ist, kann Brasilien auf eine große Zahl von Talenten mit Spielerfahrung zurückgreifen. Brasilien ist auch deshalb – zusammen mit England – klarer Favorit auf den Titel.
Allerdings verliert England sowohl das Spiel gegen die USA also auch gegen Spanien und darf vorzeitig die Heimreise antreten. Also Bahn frei für Brasilien, will man meinen. Bis zum Finale ist das auch so. Dann das entscheidende Spiel gegen Uruguay, den ersten Weltmeister in der 1930 beginnenden Geschichte der Fußballweltmeisterschaft der Männer. Das Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro, damals noch Hauptstadt Brasiliens, droht mit knapp 200.000 Besuchern aus allen Nähten zu platzen. Der Gegner: jenes winzige Land südlich von Brasilien, nicht mal halb so groß wie Mato Grosso do Sul. David gegen Goliath. Goliath unterliegt mit 1:2. Ein Land unter Schock. Augenzeugen berichten, dass noch Tage nach dem Spiel eine gespenstische Ruhe in Rio de Janeiro herrscht.
Zwei Jahre vergehen, bis die brasilianische Nationalmannschaft es wieder wagt, zu einem Spiel anzutreten. Und auch dann nur in neuen Farben. Bis dahin hatte Brasilien in weißen Trikots gespielt. Dieses Symbol der Schmach wird abgestreift und durch blau und gelb, zwei Farben aus der brasilianischen Flagge ersetzt. Und so ist es bis heute. Es sei denn, es geht gegen Schweden, welches dieselbe Farbkombination verwendet.
Und es sollte gegen Schweden gehen. Auch noch in Schweden. 1958. Vier Jahre vorher, in der Schweiz, ist für Brasilien bereits im Viertelfinale Schluss. Endstation Ungarn, der spätere Finalgegner der deutschen Mannschaft. Acht Jahre nach dem Trauma von 1950 treten bereits 16 Mannschaften. 12 aus Europa, 4 aus Lateinamerika. Titelverteidiger Deutschland schafft es bis ins Halbfinale gegen Schweden, muss sich dem Gastgeber aber mit 1:3 klar geschlagen geben.
Im Finale trifft Schweden auf Brasilien. Dort dürfen die Schweden zuerst jubeln, bevor Brasilien viermal zuschlägt. Am Ende gewinnt Brasilien mit 5:2, mit zwei Toren des jungen Pelé, der noch zwei weitere Weltmeisterschaften gewinnen sollte – 1962 in Chile sowie 1970 in Mexiko. Die Mannschaft von 1970 gilt bis heute als das beste Team aller Zeiten. Pelés dritter Titelgewinn. Im Finale, dem ersten, bei dem zwei ehemalige Weltmeister aufeinandertreffen, schlägt Brasilien Italien deutlich mit 4:1. Die deutsche Mannschaft hat dabei durchaus Anteil an Brasiliens Triumpf, zwingt sie doch im Halbfinale Italien in eine kräftezehrende Verlängerung – und das in der dünnen Luft von Mexico City in 2.300 m über dem Meeresspiegel.
Die Jahre von 1958 bis 1970 werden auch heute noch rückblickend als die goldene Ära (»Era de Ouro«) bezeichnet. Denn es folgen 24 lange Jahre ohne WM-Titel. 1974 in Deutschland: Niederlage im Halbfinale gegen Holland. 1978 in Argentinien: ausgeschieden gegen den Nachbarn und Erzrivalen Argentinien. 1982 in Spanien: Zauberfußball, aber wenig effektiv, Niederlage gegen Italien. 1986 in Mexiko: aus gegen Frankreich im Elfmeterschießen. 1990 in Italien: wieder das Aus gegen Argentinien, den späteren Finalgegner der deutschen Mannschaft. Mit der Unterstützung zahlloser brasilianischer Fans musste die deutsche Mannschaft einfach siegen. Andi Brehme, 85. Minute per Foulelfmeter. Wir erinnern uns gerne.
Dann 1994 in den USA. Endlich. Wieder Brasilien im Finale gegen Italien. Torlos nach 120 Minuten. Kapitän Dunga verwandelt den letzten Elfmeter für Brasilien, bevor Roberto Biaggio den Ball in den Himmel über Los Angeles schießt. Brasilien ist »Tetracampeão«.
1998 wird zu meiner »persönlichsten« WM. Unsere Tochter soll am 9.7.1998, drei Tage vor dem WM-Finale Brasilien gegen Frankreich, das Licht der Welt erblicken. Doch sie ist offenbar noch nicht so weit. Dann halt drei Tage später, wenn die Mutter beim WM-Sieg ordentlich in Aufregung gerät. Statt Ronaldo macht jedoch Zidane das Spiel und erzielt zwei der drei Tore für Frankreich.
Nicht nur hatte Brasilien den fünften Titel verpasst – auch wir mussten noch weitere 6 Tage warten, bis wir endlich unsere Tochter in Händen halten durften.
2002 findet die WM erstmals in der Geschichte in zwei Ländern statt – Japan und Südkorea. Nach 7 Siegen steht Brasilien im Finale. Die deutsche Mannschaft hatte man eigentlich schon viel früher zurück in der Heimat erwartet. Doch siehe da, plötzlich und unerwartet steht Rud Völler mit seinen Jungs im Finale. Der Dank geht an dieser Stelle auch an das gastgebende Südkorea, welche erst Italien und dann auch noch Spanien aus dem Turnier warfen. Beinahe hätten sie im Halbfinale auch noch Deutschland besiegt, hätte nicht Michael Ballack das Siegtor erzielt. Und das zu einem Zeitpunkt, da er bereits wusste, dass er wegen der eben erhaltenen gelben Karte im Finale nicht würde dabei sein können.
So also das erste Aufeinandertreffen von Deutschland und Brasilien bei einer Fußball-WM. Wäre es mit Ballack anders gelaufen? Wer weiß. So aber holte Ronaldo nach, was er vier Jahre zuvor schuldig geblieben war: den fünften Titel (»Pentacampeão«).
2006 in Deutschland. Es sollte für Brasilien eine der schlechteren werden. Bereits im Viertelfinale endet die Siegesserie. Wieder gegen Frankreich. Erstmals seit 1990 steht Brasilien nicht im Halbfinale.
Nun also 2010. Der Erfolgsdruck ist unvorstellbar groß. Man will endlich den sechsten Stern aufs Trikot nähen. Brasilien, zurzeit wirtschaftlich und auch außen-politisch auf der Erfolgsspur. Von der Wirtschaftskrise weitgehend, von der Finanzkrise völlig unberührt, hat das Wirtschaftswachstum bereits wieder 6% erreicht. Präsident genießt zuhause eine Zustim¬mungs¬rate von unglaublichen 76% und hat auch außenpolitisch Erfolge vorzuweisen, wie unlängst das Abkommen mit der Türkei und Iran im sog. Atomstreit, wenngleich dieses – erwartungsgemäß – von den US-Amerikanern klein-geredet, ja sogar verbal zerrissen wird. Der der sechste WM-Titel (»Hexacampeão«) wäre vor diesem Hintergrund gewissermaßen das Sahnehäubchen.
In den Wunsch mischt jedoch auch besorgte Skepsis. Doch das ist gut, meinen die in der WM-Geschichte bewanderten Brasilianer. Denn immer dann, wenn die Seleção schon vorzeitig als der sichere Weltmeister gefeiert wurde, war es am Ende dann doch nichts. Das war 1998 so, und auch 2006. Nun also besorgtes Sehnen. Beste Voraussetzung für den »Hexacampeão«.
In die Diskussion um die Spielerauswahl hat sich nun auch Präsident Lula höchstpersönlich eingeschaltet. In einem Interview stellt er sich schützend vor Trainer Dunga und kritisiert die Manie seiner Landsleute, Trainer sein zu wollen (»mania de querer ser técnico«). Er erinnert daran, dass Brasilien in der Vergangenheit verschiedentlich eine Mannschaft aufbot, welche als perfekt galt, aber dann doch nichts gewann. So geschehen 1982 und 1986. Er verspricht auch zu, alle Spiele der brasilianischen Mannschaft am Fernsehgerät zu verfolgen und in dieser Zeit keine anderen Aufgaben wahrzunehmen. Dann kann ja nichts mehr schiefgehen!
P.S.: Inzwischen ist auch der erste Werbespot zur "sprechenden Dose" da. Und der Witz geht - natürlich - auf Kosten des Lieblingsrvalen Argentinien. Doch seht am besten selbst:
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