Mittwoch, 23. Juni 2010. Zweiter Tag des entscheidenden dritten Durchgangs der Vorrunde. Gestern verabschiedete sich Frankreich mit einer Niederlage gegen den Gastgeber Südafrika, trainiert vom Brasilianer Carlos Alberto Parreira, der Brasilien 1994 zum Titel führte. Mehr noch als das Ausscheiden des Vizeweltmeisters verwunderte die Brasilianer jedoch die Tatsache, dass der französische Trainer seinem brasilianischen Kollegen am Ende des Spiels den Händedruck verweigerte. Schlechtes Benehmen, und das als Repräsent des Landes vor laufenden Kameras – für Brasilianer undenkbar.
Während man hierzulande bereits über das Spiel der Seleção gegen die portugiesische Elf debattiert, geht es für uns erst einmal darum, dass Deutschland die Vorrunde übersteht. Ein Sieg gegen Ghana muss her.
Was haben Grimms Märchen mit Sommermärchen zu tun? Beide sparen nicht mit Grausamkeiten. So auch heute. Der Fan leidet ordentlich, bis endlich Özil klarstellt, dass es ein nächstes Spiel geben wird.
Freitag, 25. Juni 2010. Nun hat es auch Italien erwischt. Aber immerhin haben sie der Nachwelt ein letztes dramatisch-spannendes Spiel geliefert und sich mit Anstand verabschiedet.
Jeztz ist alle Aufmerksamkeit auf das mit Spannung erwartete Spiel Brasiliens gegen Portugal gerichtet. Anpfiff um 10 Uhr Ortszeit.
Die Schule unserer Kinder stellt ihren Betrieb um 9 Uhr ein, damit Schüler und Lehrer noch rechtzeitig zum heimischen Fernseher kommen können. Die sonst verbindlich vorgeschriebene Schuluniform darf heute ausnahmsweise durch das kanariengelbe Trikot der Seleção ersetzt werden.
Das Spiel gerät zum torlosen Langweiler, bei dem kein Team („equipe“) dem anderen wirklich wehtun will. Der brasilianische Fan („torcedor“) ist natürlich enttäuscht, konzentriert sich in seiner Betrachtung jedoch auf die Tatsache, dass der Gruppensieg und damit das Ziel bis hierher erreicht worden ist.
Samstag, 26. Juni 2010. Es beginnt die K.o.-Runde („fase eliminatória“). Uruguay empfiehlt sich als erste Mannschaft für das Viertelfinale. Alle fünf südamerikanischen Mann sind noch im Rennen, während nur sechs der dreizehn europäischen Teams die erste Hürde nehmen konnten. So etwas wird südlich des „Aquators“ aufmerksam registriert.
Wir werden in diesen Tagen immer wieder gefragt, mit welcher Mannschaft wir in der deutsch-brasilianischen Familie es denn halten. Wir rechnen dann vor, dass wir zusammen bereits achtmal gewonnen haben („octacampeão“). Die Antwort überzeugt.
Sonntag, 27. Juni 2010. Heute also Deutschland gegen England. Der Klassiker. Und das bereits im Achtelfinale. Schuld daran sind natürlich die Engländer, die in ihrer Gruppe nicht gewinnen konnten.
Mein Tag beginnt um 6:20 Uhr. Sonntagmorgen, geschätzte 22 Grad, Sonne, strahlend blauer Himmel. Wir haben ein paar Freunde eingeladen, um mit ihnen auf unserer Veranda bei einem Churrasco das Spiel zu verfolgen. Dank unserer Freunde aus Heidelberg, welche uns Anfang Mai besuchten und uns im Nachgang eine Grundausstattung an Fan-Utensilien zuschickten, erstrahlt unsere Veranda in schwarz-rot-gold.
Anstoß Punkt 10 Uhr. Bis dahin muss alles gerichtet sein. Erst aber mal Kaffee machen, die Online-Presse im Vorfeld des Spiels überfliegen. Aha, die englischen Boulevardblätter sind dieses Mal zurückhaltender als bei früheren Ausgaben dieses Klassikers.
Unser Supermarkt öffnet auch sonntags um 7 Uhr seine Tore. Ich bin einer der ersten Kunden. Grillkohle (“carvão”), allerlei Grillgut, Getränke. An der Fleischtheke komme ich mit dem jungen Mann, der mich bedient, ins Gespräch. Ich offenbare meine Nationalität, er zeigt mir sein Namensschild: “Brettschneider”. Ich erkläre ihm die Bedeutung seines Namens, den seine Vorfahren aus Deutschland mitgebracht haben. Er freut sich und verspricht, heute die deutsche Mannschaft zu unterstützen.
Schnell noch an der Tankstelle vorbei, einen Sack Eis in den Kofferraum laden. Zuhause angekommen, das Wichtigste zuerst: Getränke in den Styroporbehälter füllen, das geschredderte Eis darüber streuen, Deckel zu. Spätestens zur Halbzeitpause wird die Zieltemperatur erreicht sein. Jetzt nur noch den Grill (“churrasqueira”) vorbereiten, das Grillbesteck reinigen, diverse Kleinigkeiten – fertig.
Der Vorbericht im Fernsehen beginnt mit Bildern von einer deutschen Gemeinde in Blumenau, einer von deutschen Einwanderern geprägten Stadt im Süden Brasiliens. Ausgelassene Fröhlichkeit in Trachten, vor Fachwerkhäusern. Klein-Deutschland wie aus dem Bilderbuch.
Das Spiel beginnt. Kurz nach Kloses Energieleistung zum 1:0 mache ich das Feuer an. Während die Flammen sich langssam ausbreiten, kann Podolski die Vorlage von Müller relativ mühelos verwandeln. Nun muss sich erst mal in Ruhe Glut bilden, da kann ich meine gesamte Aufmerksamkeit auf das Spiel richten, wo erst das eine, dann das andere Gegentor fällt und nicht gegeben wird. Nicht auszudenken, wenn es bei dem Spielstand bliebe.
In der Halbzeitpause kann ich in Ruhe die ersten Spieße vorbereiten und auflegen. Vor dem Hauptgang nimmt der Churrasco-Liebhaber nämlich gerne schon mal ein paar Stückchen gegrillter Wurst (“lingüiça”) zu sich. Nur nichts anbrennen lassen. Die Temperatur auf dem Spielfeld steigt mit der Temperatur im Grill (“churrasqueira”). Oder umgekehrt. Beim 3:1 fällt mir fast ein Fleischspieß in die Glut. Nach dem 4:1 erreichen mich erste Glückwünsche per Telefon.
Dass am Nachmittag Argentinien die Partie für sich entscheidet, überrascht niemanden. Die Sympathien der Brasilianer werden am kommenden Samstag beim Spiel von Deutschland gegen Argentinien sicherlich mehrheitlich auf Seiten der Deutschen sein, wenngleich manche sich insgeheim doch ein Finale Brasilien-Argentinien wünschen. Es wäre das erste in der Geschichte der Fußballweltmeisterschaft.
Montag, 28. Juni 2010. Holland erreicht im Schongang gegen die Slovakei das Viertelfinale. Das Spiel wird hierzulande aufmerksam verfolgt, wird hier doch der übernächste Gegner der Seleção ermittelt. Dass im heutigen Spiel Brasiliens gegen Chile etwas schiefgehen könnte, damit rechnet niemand ernsthaft. Dennoch will man sich das Spiel nicht entgehen lassen.
Ich mache die Probe aufs Exempel. Eine halbe Stunde vor Anpfiff begebe ich mich ins Stadtzentrum. Ich treffe auf viele bereits geschlossene Geschäfte und einige, welche gerade dabei sind, ihren Betrieb einzustellen. Wo sonst um diese Tageszeit dichter Verkehr herrscht, dominiert nun gähnende Leere. In Bars und an Tankstellen versammelt man sich um die Fernseher. Mit dem Anpfiff kommt das öffentliche Leben völlig zum Erliegen.
Das Spiel selbst ist eine klare Angelegenheit. Chile ist einer der Lieblingsgegner Brasiliens. 47 Siege bei nur 7 Niederlagen. Der Klassenunterschied ist auch heute überdeutlich. Drei schöne Tore. Nun nur noch drei Spiele bis zum Titelgewinn. Ob gegen Deutschlan oder Argentinien ist dabei sekundär.
Dienstag, 29. Juni 2010. Paraguay erreicht erstmals ein Viertelfinale. Die hiesige paraguayische Gemeinde bejubelt das Resultat, sieht über das grauenhafte Spiel großzügig hinweg. Spanien setzt sich gegen Portugal durch. Das Bedauern über das Ausscheiden der ehemaligen Kolonialmacht hält sich in Grenzen.
Damit sind die verbliebenen letzten Acht bekannt. Erstmals in der Geschichte sind vier Mannschaften Südamerikas vertreten. Dazu dreimal Europa, einmal Afrika.
Die Abendnachrichten berichten pflichtgemäß von den Spielen des Tages, um dann sehr schnell zu den Themen zu kommen, welche die Nation in diesen Tagen bewegen: der nun wieder schmerzende Knöchel von Mittelfeldspieler Elano, der ebenfalls lädierte Knöchel von Felipe Melo sowie das verletzte Knie von Júlio Baptista.
Doch die Holländern seien gewarnt: Die brasilianische Seleção verfügt trotz aller Blessuren noch über eine große Anzahl von einwandfrei funktionierenden Knöcheln und Knien.
Wahltag. Bei aller Kritik, die über Deutschlands Ex-Bundespräsident Köhler nach dessen Rücktritt hereingebrochen ist – eines muss man ihm wirklich lassen: Er hat den Zeitpunkt seines Rücktritts so geschickt gewählt, dass im Einklang mit dem Grundgesetz die Wahl seines Nachfolgers an einem spielfreien Tag erfolgen kann.