Dienstag, 29. Juni 2010

Dienstag, 29. Juni 2010

Südamerika 4, Europa 3

Mittwoch, 23. Juni 2010. Zweiter Tag des ent­schei­denden dritten Durchgangs der Vorrunde. Gestern verabschiedete sich Frankreich mit einer Niederlage gegen den Gastgeber Südafrika, trainiert vom Brasilianer Carlos Alberto Parreira, der Brasilien 1994 zum Titel führte. Mehr noch als das Ausscheiden des Vize­welt­meisters verwunderte die Brasilianer jedoch die Tatsache, dass der französische Trainer seinem brasilianischen Kollegen am Ende des Spiels den Händedruck ver­wei­gerte. Schlechtes Benehmen, und das als Repräsent des Landes vor laufenden Kameras – für Brasilianer undenkbar.

Während man hierzulande bereits über das Spiel der Seleção gegen die portugiesische Elf debattiert, geht es für uns erst einmal darum, dass Deutschland die Vorrunde übersteht. Ein Sieg gegen Ghana muss her.

Was haben Grimms Märchen mit Sommermärchen zu tun? Beide sparen nicht mit Grausamkeiten. So auch heute. Der Fan leidet ordentlich, bis endlich Özil klarstellt, dass es ein nächstes Spiel geben wird.

Freitag, 25. Juni 2010. Nun hat es auch Italien erwischt. Aber immerhin haben sie der Nachwelt ein letztes dramatisch-spannendes Spiel geliefert und sich mit Anstand verabschiedet.

Jeztz ist alle Aufmerksamkeit auf das mit Span­nung erwartete Spiel Brasiliens gegen Portugal gerichtet. Anpfiff um 10 Uhr Ortszeit.

Die Schule unserer Kinder stellt ihren Betrieb um 9 Uhr ein, damit Schüler und Lehrer noch rechtzeitig zum heimischen Fernseher kommen können. Die sonst verbindlich vorgeschriebene Schuluniform darf heute ausnahmsweise durch das kanariengelbe Trikot der Seleção ersetzt werden.

Das Spiel gerät zum torlosen Langweiler, bei dem kein Team („equipe“) dem anderen wirklich wehtun will. Der brasilianische Fan („torcedor“) ist natürlich enttäuscht, konzentriert sich in seiner Betrachtung jedoch auf die Tatsache, dass der Gruppensieg und damit das Ziel bis hierher erreicht worden ist.

Samstag, 26. Juni 2010. Es beginnt die K.o.-Runde („fase eliminatória“). Uruguay empfiehlt sich als erste Mannschaft für das Viertelfinale. Alle fünf süd­ameri­kanischen Mann sind noch im Rennen, während nur sechs der dreizehn europäischen Teams die erste Hürde nehmen konnten. So etwas wird südlich des „Aquators“ aufmerksam registriert.

Wir werden in diesen Tagen immer wieder gefragt, mit welcher Mannschaft wir in der deutsch-brasilianischen Familie es denn halten. Wir rechnen dann vor, dass wir zusammen bereits achtmal gewonnen haben („octacampeão“). Die Antwort überzeugt.

Sonntag, 27. Juni 2010. Heute also Deutschland gegen England. Der Klassiker. Und das bereits im Achtelfinale. Schuld daran sind natürlich die Engländer, die in ihrer Gruppe nicht gewinnen konnten.

Mein Tag beginnt um 6:20 Uhr. Sonntagmorgen, geschätzte 22 Grad, Sonne, strahlend blauer Himmel. Wir haben ein paar Freunde eingeladen, um mit ihnen auf unserer Veranda bei einem Churrasco das Spiel zu verfolgen. Dank unserer Freunde aus Heidelberg, welche uns Anfang Mai besuchten und uns im Nachgang eine Grundausstattung an Fan-Utensilien zuschickten, erstrahlt unsere Veranda in schwarz-rot-gold.

Anstoß Punkt 10 Uhr. Bis dahin muss alles gerichtet sein. Erst aber mal Kaffee machen, die Online-Presse im Vorfeld des Spiels überfliegen. Aha, die englischen Boulevardblätter sind dieses Mal zurück­haltender als bei früheren Ausgaben dieses Klassikers.

Unser Supermarkt öffnet auch sonntags um 7 Uhr seine Tore. Ich bin einer der ersten Kunden. Grillkohle (“carvão”), allerlei Grillgut, Getränke. An der Fleisch­theke komme ich mit dem jungen Mann, der mich bedient, ins Gespräch. Ich offenbare meine Nationalität, er zeigt mir sein Namensschild: “Brettschneider”. Ich erkläre ihm die Bedeutung seines Namens, den seine Vorfahren aus Deutschland mitgebracht haben. Er freut sich und verspricht, heute die deutsche Mannschaft zu unterstützen.

Schnell noch an der Tankstelle vorbei, einen Sack Eis in den Kofferraum laden. Zuhause angekommen, das Wichtigste zuerst: Getränke in den Styroporbehälter füllen, das geschredderte Eis darüber streuen, Deckel zu. Spätestens zur Halbzeitpause wird die Zieltemperatur erreicht sein. Jetzt nur noch den Grill (“churrasqueira”) vorbereiten, das Grillbesteck reinigen, diverse Kleinig­keiten – fertig.

Der Vorbericht im Fernsehen beginnt mit Bildern von einer deutschen Gemeinde in Blumenau, einer von deutschen Einwanderern geprägten Stadt im Süden Brasiliens. Ausgelassene Fröhlichkeit in Trachten, vor Fachwerkhäusern. Klein-Deutschland wie aus dem Bil­derbuch.

Das Spiel beginnt. Kurz nach Kloses Energieleistung zum 1:0 mache ich das Feuer an. Während die Flammen sich langssam ausbreiten, kann Podolski die Vorlage von Müller relativ mühelos verwandeln. Nun muss sich erst mal in Ruhe Glut bilden, da kann ich meine gesamte Aufmerksamkeit auf das Spiel richten, wo erst das eine, dann das andere Gegentor fällt und nicht gegeben wird. Nicht auszudenken, wenn es bei dem Spielstand bliebe.

In der Halbzeitpause kann ich in Ruhe die ersten Spieße vorbereiten und auflegen. Vor dem Hauptgang nimmt der Churrasco-Liebhaber nämlich gerne schon mal ein paar Stückchen gegrillter Wurst (“lingüiça”) zu sich. Nur nichts anbrennen lassen. Die Temperatur auf dem Spielfeld steigt mit der Temperatur im Grill (“churrasqueira”). Oder umgekehrt. Beim 3:1 fällt mir fast ein Fleischspieß in die Glut. Nach dem 4:1 erreichen mich erste Glückwünsche per Telefon.

Dass am Nachmittag Argentinien die Partie für sich entscheidet, überrascht niemanden. Die Sympathien der Brasilianer werden am kommenden Samstag beim Spiel von Deutschland gegen Argentinien sicherlich mehr­heitlich auf Seiten der Deutschen sein, wenngleich manche sich insgeheim doch ein Finale Brasilien-Argentinien wünschen. Es wäre das erste in der Geschichte der Fußballweltmeisterschaft.

Montag, 28. Juni 2010. Holland erreicht im Schongang gegen die Slovakei das Viertelfinale. Das Spiel wird hierzulande aufmerksam verfolgt, wird hier doch der übernächste Gegner der Seleção ermittelt. Dass im heutigen Spiel Brasiliens gegen Chile etwas schiefgehen könnte, damit rechnet niemand ernsthaft. Dennoch will man sich das Spiel nicht entgehen lassen.

Ich mache die Probe aufs Exempel. Eine halbe Stunde vor Anpfiff begebe ich mich ins Stadtzentrum. Ich treffe auf viele bereits geschlossene Geschäfte und einige, welche gerade dabei sind, ihren Betrieb einzustellen. Wo sonst um diese Tageszeit dichter Verkehr herrscht, dominiert nun gähnende Leere. In Bars und an Tankstellen versammelt man sich um die Fernseher. Mit dem Anpfiff kommt das öffentliche Leben völlig zum Erliegen.

Das Spiel selbst ist eine klare Angelegenheit. Chile ist einer der Lieblingsgegner Brasiliens. 47 Siege bei nur 7 Niederlagen. Der Klassenunterschied ist auch heute überdeutlich. Drei schöne Tore. Nun nur noch drei Spiele bis zum Titelgewinn. Ob gegen Deutschlan oder Argentinien ist dabei sekundär.

Dienstag, 29. Juni 2010. Paraguay erreicht erstmals ein Viertelfinale. Die hiesige paraguayische Gemeinde bejubelt das Resultat, sieht über das grauenhafte Spiel großzügig hinweg. Spanien setzt sich gegen Portugal durch. Das Bedauern über das Ausscheiden der ehemaligen Kolonialmacht hält sich in Grenzen.

Damit sind die verbliebenen letzten Acht bekannt. Erstmals in der Geschichte sind vier Mannschaften Südamerikas vertreten. Dazu dreimal Europa, einmal Afrika.

Die Abendnachrichten berichten pflichtgemäß von den Spielen des Tages, um dann sehr schnell zu den Themen zu kommen, welche die Nation in diesen Tagen bewegen: der nun wieder schmerzende Knöchel von Mittelfeldspieler Elano, der ebenfalls lädierte Knöchel von Felipe Melo sowie das verletzte Knie von Júlio Baptista.

Doch die Holländern seien gewarnt: Die brasilianische Seleção verfügt trotz aller Blessuren noch über eine große Anzahl von einwandfrei funktionierenden Knöcheln und Knien.

Wahltag. Bei aller Kritik, die über Deutschlands Ex-Bundespräsident Köhler nach dessen Rücktritt herein­gebrochen ist – eines muss man ihm wirklich lassen: Er hat den Zeitpunkt seines Rücktritts so geschickt gewählt, dass im Einklang mit dem Grundgesetz die Wahl seines Nachfolgers an einem spielfreien Tag erfolgen kann.

Montag, 21. Juni 2010

Montag, 21. Juni 2010

Fußball ist alles


Montag, 14. Juni 2010.

Nach dem begeisternden Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft (»seleção alemã«) mit dem 4:0-Sieg über Australien am gestrigen Sonntag nehme ich heute von allen Seiten Glückwünsche entgegen wie sonst allenfalls an meinem Geburtstag. Auch meinen Kinder wird von ihren Schulkameraden gratuliert. Brasilianer sind großzügig und fair. Sie erkennen an, wenn andere Großes leisten.


Und sie bleiben höflich, wenn andere unter den Erwartungen bleiben. Wie im Falle von Frankreich, England und Italien, welche allesamt nicht über ein Unentschieden hinauskommen.


Die Erwartungen an das morgige erste Spiel der brasilianischen Seleção sind dadurch natürlich noch höher geworden.


Punkt 14:30 h Ortszeit wird das öffentliche Leben zum Erliegen kommen, wenn die Partie Brasilien gegen Nordkorea angepfiffen wird. Die meisten Firmen beenden den Arbeitstag rechtzeitig vorher. Selbst die Banken schließen. Es würden ja sowieso keine Kunden kommen. Es gibt kein anderes Ereignis, welche die Aufmerksamkeit der 190 Millionen Brasilianer – und auch Brasilianerinnen – derart bindet wie ein Fußballspiel bei der WM. Selbst der Karneval kann da nicht mithalten.


Dienstag, 15. Juni 2010.

WM-Tag Nummer fünf beginnt mit Unentschieden Nummer fünf und Nummer sechs. Das wird doch nicht so weiter gehen?


Gegen 13 Uhr mache ich mich auf den Weg zur »Cidade da Copa«, zur »WM-Stadt«. Vor sechs Monaten beherbergte dieser Platz eine Art Weihnachtsmarkt. Die Häuschen und Hütten wurden nun kurzerhand in gelb und grün dekoriert – fertig ist die WM-Stadt. Dazu noch ein gigantischer Monitor – fertig ist das Public Viewing. Über die termingerechte Fertigstellung aller Arbeiten wacht keine Geringere als die First Lady (»Primeira Dama«) der Stadt, die Frau des Oberbürgermeisters (»Prefeito«). 30.000 Zuschauer werden erwartet.


Als ich eine Stunde vor Spielbeginn am Ort des Geschehens eintreffe, bin ich sehr überrascht. Alle Sitzplätze sind bereits besetzt. Sehr ungewöhnlich für Brasilianer, die sonst eher auf den letzten Drücker erscheinen. Aber die WM setzt allerlei Gesetze außer Kraft.


Die Stimmung ist ausgelassen, kanariengelb die dominierende Farbe. Frenetischer Jubel beim Anpfiff. Das erste Tor gegen den fußballerischen Nobody aus Nordkorea kann ja nur eine Frage von wenigen Minuten sein.


Nach 20 Minuten werden die Fans langsam aber sicher ungeduldig. Der Lärmpegel steigt merklich. Als zur Halbzeit immer noch kein Tor gefallen ist, ist der brasilianische Fan zwar irritiert, isr überzeugt davon, dass in Halbzeit zwei alles nachgeholt wird. Ist halt das erste Spiel. Und dann ist es auch noch ungemütlich kalt in Johannesburg.


Nach insgesamt 55 Minuten erlöst Maicon mit seinem Schuss aus eigentlich unmöglicher Position eine ganze Nation. Gott ist halt doch Brasilianer.


Mit Tor Nummer zwei kurz darauf ist die fußballerische Weltordnung wieder hergestellt. Dass Nordkorea noch trifft und der Enstand nur 2:1 lautet, tut der Stimmung keinen Abbruch. Hauptsache gewonnen. Es gefeiert, als hätte Brasilien den Titel schon in der Tasche. Auto-Korsos, Tanzen auf der Straße, Feuerwerk.


Mittwoch, 16. Juni 2010.

Die WM hat ihre erste Sensation. Der große Favorit Spanien scheitert an der Schweiz. Otmar Hitzfeld, der alte Trainerfuchs, hat es wieder einmal geschafft. Erst die Spanier anrennen lassen, bis sie ermüden, dann die Chance zum Konter eiskalt nutzen. Und schon hinter wieder zumachen.


Die Spiele dieser Gruppe werden natürlich hier besonders aufmerksam verfolgt, da in der nächsten Runde Brasilien, das sich selbstverständlich qualifizieren wird, auf eine dieser Mannschaften treffen wird.


In der ganzen Berichterstattung über das gestrige Spiel der Seleção sticht das hiesige Portal CapitalNews heraus, das die Befindlichkeit auf den Punkt bringt : „Brasilien beginnt mit einem mageren Sieg, die Fans haben ihre Zweifel, feiern aber einfach trotzdem.“ Recht so.


Donnnerstag, 17. Juni 2010.


Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Am Sonntag geht es gegen das Team der Elfenbeinküste („Costa do Marfim“), das immerhin den Portugiesen, Vierter der letzten WM, ein Unentschieden abgerungen hat.


Erst aber steht morgen früh, 7:30 h Ortszeit Campo Grande, Deutschland-Serbien auf dem Programm. Wir freuen uns auf noch mehr Zauberfußball.


Dass die deutsche Mannschaft mit Abstand das beste Spiel des ersten Durchgangs der Vorrunde abgeliefert hat, wird auch in Brasilien neidlos anerkannt.


Nun ist Frankreich – ähnlich wie 2002 – bereits nach dem zweiten Spiel so gut wie ausgeschieden. Die Brasilianer haben die heutige Niederlage gegen Mexiko durchaus mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, war doch der amtierende Vize-Weltmeister bereits dreimal - 1986, 1998 und 2006 - Endstation für die Seleção.


Freitag, 18. Juni 2010.

Morgens viertel vor Sieben die Kinder in die Schule bringen, Anpfiff um halb acht. Das passt genau. Draußen strahlender Sonnenschein. Drinnen alles bereit für einen weiteren bezaubernden Auftritt der deutschen Multi-Kulti-Elf. Nun ja – hat nicht sollen sein. Der Weg zu Erfolg ist selten geradlinig. Wird halt das deutsche Sommermärchen 2010 für einige Tage unterbrochen.


Samstag, 19. Juni 2010.

Die von den Deutschen im Auftaktspiel arg gebeutelten Australier erringen dankenswerter Weise ein Unentschieden gegen Ghana und geben der deutschen Mannschaft damit die Möglichkeit, aus eigener Kraft den Gruppensieg zu erringen.


Aus brasilianischer Sicht ist dies jedoch nur eine Randnotiz. Schließlich läuft die Seleção morgen zum zweiten Mal auf. Ein klarer Sieg wird erwartet und – ein schönes Spiel. Mit anderen Worten: Bitte schön mindestens ein Tor bereits in der ersten Halbzeit, und wenn möglich mehr als zwei insgesamt.


Sonntag, 20. Juni 2010.

Sonntagmorgen spielt mein Lieblingsradiosender „Rádio MS“ stets „Ritmos da fronteira“, übersetzt „Rhythmen aus dem Grenzgebiet“. Gemeint ist die Grenze des Bundesstaates Mato Grosso do Sul mit Paraguay. Campo Grande beherbergt eine große Gemeinde von „paraguaios“, die natürlich an diesem Morgen das Spiel ihrer Mannschaft gegen jene der Slovakei verfolgen. Paraguay hatte im ersten Spiel dem amtierendem Weltmeister bereits ein 1:1 abgetrotzt, gewinnt nun mit 2:0 – und übernimmt die Tabellen¬führung, da die „Azzurri“ auch gegen Neuseeland nicht gewinnen können. Langsam könnte man sich um Europas Fußballmannschaften machen, wenn man dies wollte.


Für solche Überlegungen bleibt wenig Zeit, schließlich wird um 14:30 h Brasilien gegen Elfeinbeinküste („Costa do Marfim“) angepfiffen. Ein Land steht zusammen. Selbst die Kirche und der örtliche Sex-Shop, sonst auf jeweils ihre eigene Weise diskret, wollen da nicht abseits stehen. Pfarrer erbitten im Sonntagsgottesdienst den göttlichen Segen für einen Sieg der Seleção. Die Schaufensterpuppe im Erotikladen ist in grün-gelbe „Lingerie“ gekleidet.


Die brasilianische Mannschaft erfüllt die Erwartungen, das ist die Hauptsache. Brasilien ist für die nächste Runde qualifiziert. Gelb-rot für Kaká, Handspiel durch Luis Fabiano – Details, welche der weite Mantel der Geschichte schon in Kürze dem Vergessen überantworten wird.


Montag, 21. Juni 2010.

Portugals sieben Tore gegen Nordkorea – die Schwalbe, die den Auftritt der europäischen Mannschaften zum Sommer macht? Und das heute an dem Tag, da auf der Südhalbkugel der Winter beginnt?


Nun, da jede Mannschaft zwei Spiele absolviert hat, sieht vieles danach aus, dass dies eine WM der Mannschaften Südamerikas wird. Es sind dies in alphabetischer Reihenfolge: Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay, Uruguay.


Die Beweislast ist geradezu erdrückend. Erstens: Keine der südamerikanischen Mannschaften hat bislang verloren. Zweitens: Drei der vier Teams, welche beide Spiele gewonnen haben, kommen aus Südamerika. Drittens: Alle südamerikanischen Teams belegen in ihren Gruppen jeweils Platz eins.


Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders. Klar ist hingegen, dass heute, am Winteranfang, das Thermometer hier deutlich die 30 Grad überschritt. Für die Jahreszeit zu warm. Für uns gerade richtig.

Dienstag, 8. Juni 2010

Dienstag, 8. Juni 2010

HEXACAMPEÃO

Nur noch wenige Tage sind es bis zum Anpfiff der Fußballweltmeisterschaft. Das Land ist in grün und gelb („verde-amarelo“), den vorherrschenden Farben der brasilianischen Flagge, dekoriert. Die Bierproduzenten fahren Sonderschichten. Während manch andere Wirtschaftszweige unter diesem Ereignis eher zu leiden haben, ist für die Getränkeindustrie die WM wie ein Monat extra.


Skol, die dominierende Biermarke, bringt sogar eine neuartige Bierdose auf den Markt: eine, welche zum Konsumenten spricht. Natürlich ist nicht jedes Exemplar derart besonders. Man muss halt nur genügend Einheiten ihrer Bestimmung zuführen, dann wird schon eine dieser „latas falantes“, dieser sprechenden Dosen dabei sein.


Für Brasilien liegt der gefühlte Beginn lange vor der offiziellen Eröffnung am 11. Juni 2010. Bereits Mitte Mai, als der Trainer Carlos Dunga das Aufgebot verkündet, herrscht »Feuer unterm Dach«. Wie kann er nur den Jungstar Neymar, der achtzehnjährig bereits als der neue Pelé gefeiert wird, zuhause lassen?


Der Trainer hat seine Gründe. Der Erfolgsdruck bei einer Fußball-WM ist groß. Und für die brasilianische Mannschaft sehr groß. Sicher, Pelé hat damals 1958, als Siebzehnjähriger, Brasilien zum ersten Titelgewinn geführt. Damals. Heute ist Brasilien fünfmaliger Weltmeister (»Pentacampeão«). Und 190 Millionen Brasilianer erwarten Titel Nummer sechs (»Hexacampeão«). Mit diesem Druck umzugehen, braucht Erfahrung. Sagt Dunga.


Beißender Spott lässt nicht lange auf sich warten. Hier in Campo Grande entstand eine Werbetafel, welche es sogar in die nationalen Abendnachrichten (»Jornal Nacional«) schafft und so zu landesweiter Berühmtheit bringt. Auf ihr steht sinngemäß zu lesen: »Mach es wie Dunga. Lass´ die Finger von Crack.« Auch im Portugiesischen bezeichnet »craque« gleichermaßen den herausragenden Experten (»Crack«) wie auch die Droge.


Hierzu muss man wissen, dass Dunga verschiedentlich Werbung gegen Drogen machte. Was man auch über ihn wissen muss, ist das er sich wahrscheinlich immer noch heimlich Maultaschen einfliegen lässt, hat er doch 1993 bis 1995 für den VfB Stuttgart gespielt.


Sein richtiger Name ist übrigens »Carlos Caetano Bledorn Verri«, woraus man ersehen kann, dass er deutsche und italienische Vorfahren hat. Brasilien, das bekennende Einwanderungsland.


Der Spitzname wurde ihm von einem skeptischen Onkel verpasst, der offenbar nicht daran glaubte, dass der Junge dereinst mal eine normale Körpergröße erlangen würde. Dunga ist nämlich der Name eines von Schneewittchens sieben Zwergen. Die Gebrüder Grimm sahen keine Notwendigkeit, ihnen Namen zu geben. Walt Disney schon. Dunga ist jener, der keinen Bart trägt, nicht spricht und große Ohren hat.


Dunga, vorgesehen als Übergangslösung auf dem Trainerstuhl. Nun schon seit fast 4 Jahren. Unter seiner Führung hat die brasilianische Mannschaft, die »Seleção« von 57 Spielen gerade mal 5 verloren. Das verschafft Respekt in einem Land mit weit mehr als 100 Millionen Fußballexperten.


Auch beim Präsidenten Lula, der gut zwei Wochen vor Beginn der WM die Mannschaft in Brasília empfängt, jeden Spieler einzeln begrüßt, umarmt und mit seinen Wünschen und Ratschlägen ausstattet. Das ist nicht nur Show – Wahlkampf hin oder her – da geht es um mehr. Fußball ist zwar auch in Brasilien ein Spiel, aber ein Spiel des Lebens. Strategien, die im Fußball zu sportlichem Erfolg führen, greifen oft auch im »richtigen« Leben.


Selbst in der Musik. Luis, mein Cavaquinho-Lehrer, ein Anhänger des Traditionsclubs Flamengo aus Rio de Janeiro, also ein »Flamenguista«, bemüht regelmäßig Bilder aus dem Fußball, um etwa die Funktion bestimmter Akkorde zu illustrieren.


Brasilien ist eine Großmacht im Fußball. Und das, obwohl vor dem ersten Triumpf eine traumatische Niederlage stand. 1950. Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land. Die erste nach dem zweiten Weltkrieg. Ganze 13 Mannschaften nehmen teil: 6 aus Europa, 5 aus Südamerika, dazu Mexiko und die USA. Während Europa noch vom Krieg gezeichnet ist, kann Brasilien auf eine große Zahl von Talenten mit Spielerfahrung zurückgreifen. Brasilien ist auch deshalb – zusammen mit England – klarer Favorit auf den Titel.


Allerdings verliert England sowohl das Spiel gegen die USA also auch gegen Spanien und darf vorzeitig die Heimreise antreten. Also Bahn frei für Brasilien, will man meinen. Bis zum Finale ist das auch so. Dann das entscheidende Spiel gegen Uruguay, den ersten Weltmeister in der 1930 beginnenden Geschichte der Fußballweltmeisterschaft der Männer. Das Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro, damals noch Hauptstadt Brasiliens, droht mit knapp 200.000 Besuchern aus allen Nähten zu platzen. Der Gegner: jenes winzige Land südlich von Brasilien, nicht mal halb so groß wie Mato Grosso do Sul. David gegen Goliath. Goliath unterliegt mit 1:2. Ein Land unter Schock. Augenzeugen berichten, dass noch Tage nach dem Spiel eine gespenstische Ruhe in Rio de Janeiro herrscht.


Zwei Jahre vergehen, bis die brasilianische Nationalmannschaft es wieder wagt, zu einem Spiel anzutreten. Und auch dann nur in neuen Farben. Bis dahin hatte Brasilien in weißen Trikots gespielt. Dieses Symbol der Schmach wird abgestreift und durch blau und gelb, zwei Farben aus der brasilianischen Flagge ersetzt. Und so ist es bis heute. Es sei denn, es geht gegen Schweden, welches dieselbe Farbkombination verwendet.


Und es sollte gegen Schweden gehen. Auch noch in Schweden. 1958. Vier Jahre vorher, in der Schweiz, ist für Brasilien bereits im Viertelfinale Schluss. Endstation Ungarn, der spätere Finalgegner der deutschen Mannschaft. Acht Jahre nach dem Trauma von 1950 treten bereits 16 Mannschaften. 12 aus Europa, 4 aus Lateinamerika. Titelverteidiger Deutschland schafft es bis ins Halbfinale gegen Schweden, muss sich dem Gastgeber aber mit 1:3 klar geschlagen geben.


Im Finale trifft Schweden auf Brasilien. Dort dürfen die Schweden zuerst jubeln, bevor Brasilien viermal zuschlägt. Am Ende gewinnt Brasilien mit 5:2, mit zwei Toren des jungen Pelé, der noch zwei weitere Weltmeisterschaften gewinnen sollte – 1962 in Chile sowie 1970 in Mexiko. Die Mannschaft von 1970 gilt bis heute als das beste Team aller Zeiten. Pelés dritter Titelgewinn. Im Finale, dem ersten, bei dem zwei ehemalige Weltmeister aufeinandertreffen, schlägt Brasilien Italien deutlich mit 4:1. Die deutsche Mannschaft hat dabei durchaus Anteil an Brasiliens Triumpf, zwingt sie doch im Halbfinale Italien in eine kräftezehrende Verlängerung – und das in der dünnen Luft von Mexico City in 2.300 m über dem Meeresspiegel.


Die Jahre von 1958 bis 1970 werden auch heute noch rückblickend als die goldene Ära (»Era de Ouro«) bezeichnet. Denn es folgen 24 lange Jahre ohne WM-Titel. 1974 in Deutschland: Niederlage im Halbfinale gegen Holland. 1978 in Argentinien: ausgeschieden gegen den Nachbarn und Erzrivalen Argentinien. 1982 in Spanien: Zauberfußball, aber wenig effektiv, Niederlage gegen Italien. 1986 in Mexiko: aus gegen Frankreich im Elfmeterschießen. 1990 in Italien: wieder das Aus gegen Argentinien, den späteren Finalgegner der deutschen Mannschaft. Mit der Unterstützung zahlloser brasilianischer Fans musste die deutsche Mannschaft einfach siegen. Andi Brehme, 85. Minute per Foulelfmeter. Wir erinnern uns gerne.


Dann 1994 in den USA. Endlich. Wieder Brasilien im Finale gegen Italien. Torlos nach 120 Minuten. Kapitän Dunga verwandelt den letzten Elfmeter für Brasilien, bevor Roberto Biaggio den Ball in den Himmel über Los Angeles schießt. Brasilien ist »Tetracampeão«.


1998 wird zu meiner »persönlichsten« WM. Unsere Tochter soll am 9.7.1998, drei Tage vor dem WM-Finale Brasilien gegen Frankreich, das Licht der Welt erblicken. Doch sie ist offenbar noch nicht so weit. Dann halt drei Tage später, wenn die Mutter beim WM-Sieg ordentlich in Aufregung gerät. Statt Ronaldo macht jedoch Zidane das Spiel und erzielt zwei der drei Tore für Frankreich.


Nicht nur hatte Brasilien den fünften Titel verpasst – auch wir mussten noch weitere 6 Tage warten, bis wir endlich unsere Tochter in Händen halten durften.


2002 findet die WM erstmals in der Geschichte in zwei Ländern statt – Japan und Südkorea. Nach 7 Siegen steht Brasilien im Finale. Die deutsche Mannschaft hatte man eigentlich schon viel früher zurück in der Heimat erwartet. Doch siehe da, plötzlich und unerwartet steht Rud Völler mit seinen Jungs im Finale. Der Dank geht an dieser Stelle auch an das gastgebende Südkorea, welche erst Italien und dann auch noch Spanien aus dem Turnier warfen. Beinahe hätten sie im Halbfinale auch noch Deutschland besiegt, hätte nicht Michael Ballack das Siegtor erzielt. Und das zu einem Zeitpunkt, da er bereits wusste, dass er wegen der eben erhaltenen gelben Karte im Finale nicht würde dabei sein können.


So also das erste Aufeinandertreffen von Deutschland und Brasilien bei einer Fußball-WM. Wäre es mit Ballack anders gelaufen? Wer weiß. So aber holte Ronaldo nach, was er vier Jahre zuvor schuldig geblieben war: den fünften Titel (»Pentacampeão«).


2006 in Deutschland. Es sollte für Brasilien eine der schlechteren werden. Bereits im Viertelfinale endet die Siegesserie. Wieder gegen Frankreich. Erstmals seit 1990 steht Brasilien nicht im Halbfinale.


Nun also 2010. Der Erfolgsdruck ist unvorstellbar groß. Man will endlich den sechsten Stern aufs Trikot nähen. Brasilien, zurzeit wirtschaftlich und auch außen-politisch auf der Erfolgsspur. Von der Wirtschaftskrise weitgehend, von der Finanzkrise völlig unberührt, hat das Wirtschaftswachstum bereits wieder 6% erreicht. Präsident genießt zuhause eine Zustim¬mungs¬rate von unglaublichen 76% und hat auch außenpolitisch Erfolge vorzuweisen, wie unlängst das Abkommen mit der Türkei und Iran im sog. Atomstreit, wenngleich dieses – erwartungsgemäß – von den US-Amerikanern klein-geredet, ja sogar verbal zerrissen wird. Der der sechste WM-Titel (»Hexacampeão«) wäre vor diesem Hintergrund gewissermaßen das Sahnehäubchen.


In den Wunsch mischt jedoch auch besorgte Skepsis. Doch das ist gut, meinen die in der WM-Geschichte bewanderten Brasilianer. Denn immer dann, wenn die Seleção schon vorzeitig als der sichere Weltmeister gefeiert wurde, war es am Ende dann doch nichts. Das war 1998 so, und auch 2006. Nun also besorgtes Sehnen. Beste Voraussetzung für den »Hexacampeão«.


In die Diskussion um die Spielerauswahl hat sich nun auch Präsident Lula höchstpersönlich eingeschaltet. In einem Interview stellt er sich schützend vor Trainer Dunga und kritisiert die Manie seiner Landsleute, Trainer sein zu wollen (»mania de querer ser técnico«). Er erinnert daran, dass Brasilien in der Vergangenheit verschiedentlich eine Mannschaft aufbot, welche als perfekt galt, aber dann doch nichts gewann. So geschehen 1982 und 1986. Er verspricht auch zu, alle Spiele der brasilianischen Mannschaft am Fernsehgerät zu verfolgen und in dieser Zeit keine anderen Aufgaben wahrzunehmen. Dann kann ja nichts mehr schiefgehen!


P.S.: Inzwischen ist auch der erste Werbespot zur "sprechenden Dose" da. Und der Witz geht - natürlich - auf Kosten des Lieblingsrvalen Argentinien. Doch seht am besten selbst: