Wir sind inzwischen in Salvador, der Hauptstadt des Bundesstaates Bahia angekommen. Mehr als 3.000 Kilometer haben wir in den letzten acht Tagen zurückgelegt. Mit jedem Kilometer haben wir dieses Land ein kleines Stück besser kennen gelernt und verstanden.
Samstag, 9. Januar 2010: Aufbruchsstimmung
Morgen früh gegen 5 Uhr wollen wir aufbrechen. Es wird mit knapp 6.000 km die längste (terrestrische) Reise meines Lebens werden. Dies gilt für die anderen Familienmitglieder inklusive Hund ebenfalls.
Aufbrechen heißt immer, die gewohnte Umgebung zurückzulassen. Es sind Momente wie diese, in denen mein „innerer Dialog“ sehr lebendig wird. Während der Abenteurer in mir fragt, warum ich denn nicht schon längst unterwegs sei, rät der Besonnene in mir zu überlegtem Planen und Handeln. In der Vergangenheit kam es auch schon mal vor, dass der eine den anderen mit einem völlig überraschend vorgetragenen Angriff überrumpelte. Das soll mir dieses Mal – und auch in Zukunft – nicht mehr passieren. Also: Starttermin festlegen, Listen anfertigen und abarbeiten.
Unter anderem ist sicherzustellen, dass sich jemand um unser Haus kümmert. Unsere Nachbarn haben sich freundlicherweise dazu bereit erklärt. Dafür dürfen sie sich bei den Mangos („mangas“), Avocados („abacates“) und Bananen („bananas“) nach Herzenslust bedienen. Überhaupt die Mangos. Ich bin tief beeindruckt, welch gewaltige Menge an herrlichen Früchten ein einziger Baum dieser Gattung hervorzubringen vermag. Ich habe gelernt, dass die Früchte unserer Mangosorte am Baum nicht reifen. Vielmehr nimmt man sie in hartem Zustand ab. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man ist sie in „grünem“ Zustand mit Salz, auch als Zutat für Salat. Oder man wickelt sie in Zeitungspapier ein und lässt sie einige Tage liegen, bis sie weich und zuckersüß geworden sind. Eine höchst erstaunliche Frucht, wie ich finde.
Sonntag, 10. Januar 2010: Regen bei Nacht
Eine Reise dieser Größenordnung will einigermaßen gut geplant sein. Eine Einteilung in realistische Tagesetappen ist oberstes Gebot. Die Etappe des ersten Tages soll die längste der ganzen Reise sein. Dazu brechen wir bereits frühmorgens vor 5 Uhr auf. Der Hintergedanke ist natürlich, dass die Kinder im Auto weiterschlafen und wir bereits über alle Berge sind, wenn sie aufwachen. Der Plan sollte aufgehen. Zunächst aber ist es noch dunkel. Und es regnet.
Wir verlassen unsere Stadt in östlicher Richtung. Schnell gewinnen wir die Erkenntnis, dass wir Fahren im Dunkeln aufgrund der teilweise sehr spärlichen Straßenmarkierungen künftig vermeiden wollen. Wir kommen dennoch gut voran. Kinder und Hund schlafen wie vorgesehen. Nach etwa einer Stunde erscheint das ersehnte Licht am Horizont. Hallo, Welt.
Nach etwa 200 Kilometern verlassen wir die Bundesstraße BR-262 und nehmen die Landstraße MS-377. Der Zustand der Straße verschlechtert sich augenblicklich. Da gibt es was zu tun, Herr Governeur! Denken Sie an die Wahlen in diesem Jahr!
Der beklagenswerte Zustand des Straßenbelags wird einigermaßen aufgewogen durch die Abwesenheit von Verkehr. Wir haben die Straße praktisch für uns allein und können in sportlicher Manier die Schlaglöcher umfahren.
Nach etwa 400 Kilometern passieren wir die Grenze zum Bundesstaat Minas Gerais. Der Name bedeutet so viel wie „Allgemeine Minen“ und deutet darauf hin, dass dort in der Vergangenheit nach allerlei Rohstoffen im Boden geschürft wurde. Nicht irgendwelches unedle Material wurde gesucht und gefunden, sondern Gold, Silber und Edelsteine. Von diesem einstigen Reichtum zeugen heute noch zahlreiche Bau- und Kunstwerke.
Unsere Strecke ist gesäumt von endlosen Zuckerrohrfeldern mit den zugehörigen „usinas“, „End-to-End“-Produktionsstätten für jenen Ethanol, den wir alle paar hundert Kilometer in den Tank unseres Autos füllen.
Etwa alle 50 Kilometer passieren wir eine Stadt: Iturama, São Francisco de Sales, Itapagipe, Frutal, Conceição de Alagoas und schließlich Uberaba, die mit 350.000 Einwohnern größte Stadt der Region.
Wenige Kilometer danach sind wir am Ziel: Die Pension („pousada“) „Estação do Dinossauro“ in Peirópolis, ein Ort von bezauberndem Charme und einnehmender Harmonie. Paulinho, der die Pension vor 2 Monaten übernommen hat, empfängt uns mit herzlicher Freundlichkeit und richtet in Windeseile 2 Zimmer für uns her. Das Gebäude ist hundert Jahre alt. Die Räume sind daher hoch, statt einer Klimaanlage sorgt ein ruhig kreisender Deckenventilator für ein angenehmes Lüftchen. Herrlich.
Der Name der Pension leitet sich von zwei Besonderheiten ab: Das Gebäude gehörte früher zu örtlichen Bahnstation („estação“). Und: Diese Gegend ist archäologisch bedeutsam aufgrund der zahlreichen Funde von Dinosaurierfossilien, die im Museum neben an bewundert werden können. Ein urzeitliches Krokodil verewigt den Namen der Region: „Uberabasuchus terrificus“, das schreckliche Krokodil von Uberaba.
Die Pension ist ein kleines Paradies: Mit üppigen Obstgarten, lauschigen Sitzecken innerhalb und außerhalb des Hauses, einem erfrischenden Schwimmbad.
Die vielen Stunden der Fahrt sind schnell abgeschüttelt und vergessen. Neben der Pousada befindet sich ein einfaches Restaurant, welches aber gerade dabei ist, seine Pforten zu schließen. Kein Problem. Da ist ja noch Dona Albertina, eine ältere Dame, die in ihrem Haus nach Voranmeldung einfache Mahlzeiten anbietet. Jeder bedient sich nach Herzenslust direkt in der Küche. Einfache Kost, vollendet im Zusammenspiel der Düfte und Geschmäcker. Erinnert sich jemand, wann wir in letzter Zeit besser gegessen haben? Minas Gerais ist für seine ausgezeichnete Küche berühmt.
Am Abend drückt Paulinho mir eine Gitarre in die Hand. Er selbst bedient ein trommelartiges Instrument, Oriana singt. Einfaches, dennoch seltenes und daher kostbares Vergnügen.
Montag, 11. Januar 2010: Weil’s so schön ist…
Eigentlich wollten wir ja heute gleich weiterziehen. Weil es aber hier so schön ist, bleiben wir noch einen Tag. Und Dona Albertina kocht ja auch mittags.
Andere Pensionsgäste erzählen uns von einem weiteren schönen Ort ganz in der Nähe unserer nächsten Tagesetappe. Ich bin gespannt, wo wir die übernächste Nacht verbringen werden.
Erst aber genießen wir diesen friedlichen Tag. Ein Besuch im Dinosaurier-Museum, ein Spaziergang zum nahegelegenen Wasserfall, eine Unterhaltung mit Paulinho und dessen Freunden unter einem schattigen Baum. Dazu zwei Spezialitäten aus Minas: Käse und gereifter Zuckerrohrschnaps („cachaça“). Die Themen lassen nichts aus: Politik, nachhaltige Lebensweise und vieles mehr.
Und abends dürfen wir ein weiteres Mal die grandiosen Gerichte von Dona Albertina genießen. „Comida caseira“ nennt man das hier. Der Ausdruck „Hausmannskost“ trifft es nur annähernd. Es ist das Essen, was in den Häusern der einfachen Leute Tag für Tag zubereitet wird. Zubereitet wird das, was der Boden hergibt: Reis, Bohnen, Gemüse, ein wenig Fleisch. All das vereinigt zu einen harmonischen Ganzen, das keinen Schnaps zur Verdauung benötigt.
Dienstag, 12. Januar 2010
Wehmütig verlassen wir diesen wunderschönen magischen Ort. Kann man innerhalb von knapp zwei Tagen eine Freundschaft schließen? Offenbar schon.
Innerhalb einer Stunde erreichen wir die Stadt Araxá, Heimat von Dona Beja. Diese Dame wird im 19. Jahrhundert als Jugendliche an einen reichen portugiesischen Fazendeiro verschleppt und als Geliebte „gehalten“. Später, als dieser von seinem König nach Portugal zurückbeordert wird, lässt er sie – mit einem stattlichen Vermögen – zurück. Mitnehmen kann er sie nicht, da in Portugal seine Ehefrau wartet. Als reife Frau gelangt Dona Beja zu erheblichem politischem Einfluss in der Region.
Vor uns liegt nun Belo Horizonte („Schöner Horizont“), die sechstgrößte Stadt Brasiliens und Hauptstadt von Minas Gerais. Im Großraum „BH“ wohnen ca. fünf Millionen Menschen. Auf dem Weg dorthin sind verschiedene Bergzüge („serras“) zu überwinden und noch mehr schwer beladene LKWs zu überholen. Trotz aller Hindernisse kommen wir gut voran.
Auf unserem Weg zu unserem Tagesziel müssen wir an Belo Horizonte vorbei. Rauf auf den Autobahnring, dann die Ausfahrt Richtung Rio de Janeiro nehmen. Ganz einfach, eigentlich. Wäre da nicht ein nicht enden wollender Stau, der uns nahezu zwei Stunden unseres Lebens kostet.
Doch die Zuversicht an Bord schwindet nicht. Vielmehr entstehen höchst kreative Ideen. Wie etwa, was zu tun wäre, wenn mitten im Stau, ohne Standstreifen, der Hund mal „muss“. Man könnte ihn ja einfach mal kurz aus dem Fenster heben.
Aber auch der längste Stau endet irgendwann einmal. Und so kommen wir – nach Sonnenuntergang – wohlbehalten in unserer Pousada in Mariana, der ersten Hauptstadt von Minas Gerais, an. Ein Sprung in den Swimming-Pool, und die Strapazen der Reise sind abgeschüttelt.
Mittwoch, 13. Januar 2010
Der heutige Tag gehört der Geschichte und der Kultur. Nach einem üppigen Frühstück („café da manhã“) brechen auf in das wenige Kilometer entfernte Ouro Preto, dessen Altstadt seit 1980 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört.
Der Name Ouro Preto bedeutet auf Deutsch „Schwarzes Gold“. Vor gut dreihundert Jahren entdeckt man Gold in dieser Gegend. Dieses ist zwar zunächst nicht als solches erkennbar, da es durch Eisenoxyd-Verunreinigungen schwarz gefärbt ist. Es dauert jedoch nicht lange, und ein wahrer Goldrausch wird entfacht.
Auf dessen Höhepunkt hat Ouro Preto 150.000 Einwohner, während zu diesem Zeitpunkt in der damaligen Bundeshauptstadt Rio de Janeiro gerade mal 40.000 Menschen wohnen. Der größte Teil der Bewohner sind Männer, darunter viele afrikanische Sklaven, die die schwere Arbeit unter Tage zu verrichten haben.
Die Goldvorkommen sind von dramatischem Ausmaß. Man schätzt, dass zwischen 1700 und 1800 etwa 1.000 Tonnen Gold aus der Erde geholt wurden. Ein erheblicher Teil davon wurde nach Portugal verschifft. Brasilien ist zu dieser Zeit noch portugiesische Kolonie. Von Portugal aus wiederum wandert ein großer Teil des Goldes nach England. Heute würde man sagen, dass Portugal damals ein großes Handelsbilanzdefizit mit England hatte. Die industrielle Revolution im England des achtzehnten Jahrhunderts wurde daher zu einem großen Teil mit dem Gold aus dem brasilianischen Ouro Preto bezahlt.
Unser Stadtführer mit dem markanten Namen Herculano erzählt uns im Laufe des Tages viele Geschichten. Darunter diese: Wenn man eine der zahlreichen prunkvoll gestalteten Kirchen betritt, so gelangt man zunächst in einen Vorraum, von dem aus der Blick zum Altar durch eine Wand verstellt ist. Diese Wand diente zweierlei Zwecken: Erstens sollte sie den Luftzug durch das Kirchenschiff bremsen und so das unerwünschte Auslöschen von Kerzen verhindern. Zweitens verwies sie die Armen, die Elenden, die Habenichtse in ihre Schranken: Bis hierher und nicht weiter. Die „Mittelschicht“ durfte ins Kirchenschiff vorrücken, für die Oberschicht waren, wie in Theatern, Logen im Obergeschoß reserviert. Von dort hat man eigentlich gar keinen Blick auf den Altar. Aber das war wohl auch nicht weiter relevant. Der sonntägliche Kirchgang diente zu dieser Zeit offenbar in erster Linie dem „Networking“.
Trotz dieser wechselvollen Geschichte sind wir tief beeindruckt von der prachtvollen Gestaltung der Kirchen im Inneren. Ein Name wird immer wieder genannt: „Aleijadinho“. Ein Ausnahmebildhauer zu jener Zeit, der im Alter an einer degenerativen Krankheit litt. Im fortgeschrittenen Stadium, als seine Finger bereits verkümmert waren, ließ er sich Hammer und Meißel an seine Hände binden, um so weiter arbeiten zu können. Manchmal bringt großes Leid große Taten hervor. Ich hoffe inständig, dass es auch anders geht.
Neben der genannten Dreiklassengesellschaft wären da noch die Sklaven. Die Sklaverei wird in Brasilien offiziell 1888 abgeschafft. Zur Zeit des Goldrausches im achtzehnten Jahrhundert ist die sie also noch allgemein gesellschaftlich akzeptiert. Dies gilt auch für die Kirche. Schwarze gelten nicht als Menschen, sondern als Sachen. Sie werden nicht getauft, dürfen keine Kirchen besuchen. Umso erstaunlicher ist es, dass es in Ouro Preto eine Kirche gibt, die von ehemaligen Sklaven erbaut wurde. Die Eindrücke des Tages lassen uns in sehr nachdenklicher Verfassung zurück.
Donnerstag, 14. Januar 2010
Ein Muster beginnt sich abzuzeichnen: An den geraden Tagen reisen wir, an den ungeraden Tagen ruhen wir aus oder machen „Sightseeing“. Heute also wieder reisen. Von Mariana aus nehmen wir die Straße Richtung Norden nach Santa Barbara. Das Gelände ist nach wie vor sehr hügelig, fast gebirgig. Entsprechend kurvenreich verläuft die Straße. Entschädigt werden wir durch fantastische Ausblicke in Täler und auf Berge, von denen einige jedoch einen „angefressenen“ Eindruck machen. Hier werden in großem Stil Rohstoffe aus der Erde geholt, Eisenerz unter anderem. Irgendwo muss der Stahl für Autos, Schiffe etc. ja herkommen. Der Preis des Fortschritts.
Kurz nach Santa Barbara fahren wir auf die Bundesstraße BR-381 auf. Die Hoffnung, dort schneller voranzukommen erfüllt sich nicht. Die Landschaft bleibt atemberaubend, doch unsere Durchschnittsgeschwindigkeit bleibt hinter den Erwartungen zurück. Man kann eben nicht alles auf einmal haben.
Erschwerend kommen verschiedene Baustellen hinzu, an denen der Verkehr abwechselnd nur auf einer Spur fließen kann. Auch in Brasilien scheint es also beliebt zu sein, ausgerechnet zur Hauptreisezeit die Straßen auszubessern.
Gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit verlassen wir den Bundesstaat Minas Gerais. Von den Straßenverhältnissen abgesehen, bleibt ein begeisterter Eindruck zurück. „Minas“ ist grandios. Wir wollen auf jeden Fall mal wieder zurückkehren und mehr davon entdecken.
Nun sind wir im Bundesstaat Espirito Santo – „Heiliger Geist“. Inzwischen ist es dunkel, und wir haben noch nichts gegessen. Am Straßenrand sehen wir ein Haus, das nicht wirklich wie ein Restaurant aussieht, vor dem aber mehr Stühle stehen als vor einem normalen Wohnhaus. Wir fragen mal. Ja, es gibt Abendessen. Selbstbedienung. Wir bedienen uns. Einfache, ordentliche Kost, für knapp 10 Euro. Für uns alle zusammen. Kann man nicht meckern. Noch dazu, wenn man bedenkt, dass die Wirtsleute uns darauf aufmerksam machten, dass wir auf dem Holzweg waren. Einmal eben nicht aufgepasst und falsch abgebogen. Muito obrigado.
Weiter geht’s. Der Sternenhimmel beleuchtet unseren Weg. Und die Reflektoren auf der Straße. Rechts in weiß, der Mittelstreifen in gelb, der linke Rand in rot. Ziemlich logisch, wenn man bedenkt, dass wir im Land des Fußballs unterwegs sind.
Schließlich kommen wir doch noch in unserer Pousada an. Wir riechen das Meer. Zu mehr reicht es jedoch nicht mehr. Es ist fast Mitternacht. Wir sind müde. Hauptsache einen Platz zum Schlafen. Egal wo und wie.
Freitag, 15. Januar 2010
Unsere Pousada ist das Gegenteil von den Kirchen in Ouro Preto. Während jede Kirchen von außen einen eher beklagenswerten Eindruck machen, sind sie innen äußerst prachtvoll. Damit ist eigentlich alles gesagt. Das Etablissement befindet sich in der ersten Reihe, mit direktem Zugang zum Strand. Dazu Schwimmbad. Das hat seinen Preis. Das wird bei den Zimmern dann wieder eingespart. Isaac, unser „single point of contact“ tut sein Bestes, kann die beengten Verhältnisse aber auch nicht ändern.
Wir frühstücken und verbringen einen entspannten Vormittag am Strand. Dabei beschließen wir, unseren Rhythmus zu durchbrechen und bereits am Nachmittag weiterzufahren. Man kennt das ja: Wenn Mäuse auf beengtem Raum gehalten werden, dann führt das zu Stress und Aggressivität. Wir wollen vermeiden, dass es so weit kommt. Also packen und zahlen.
Und schon stehen wir vor einer weiteren Herausforderung. Die Kreditkartenmaschine funktioniert leider nicht, und unsere Barbestände reichen nicht aus, um unsere Verbindlichkeiten zu begleichen. Also Geld abheben. Nun ist es in Brasilien nicht so, dass man als Kunde einer Bank bei allen anderen Banken Geld abheben kann. Wir haben Glück und bekommen Bargeld. Hätte das nicht geklappt, so hätten wir auch noch einen Plan B in der Tasche gehabt: Echte Euros, die wir in einer „casa de câmbio“ in brasilianische Reais (1 Real, mehrere Reais) verwandeln könnten.
Wir würden vor der Abreise gerne noch einen gebratenen Fisch verzehren. Allerdings wird uns der Eintritt verwehrt. Schuld ist der Hund. Also begnügen wir mit ein paar „pasteis“. Ein „pastel“ ist eine in Öl gebackene Teigwaren, die mit Käse und/oder Fleisch gefüllt ist.
Die vor uns liegende Tagesetappe beläuft sich auf geschätzte 350 km. Der größte Teil davon verläuft auf der Bundesstraße „BR-101“, welche die gesamte brasilianische Ostküste durchzieht. Diese Bundesstraße, die wichtigste Brasiliens, besitzt die stolze Länge von über 4.500 Kilometern.
Nach etwa 50 Kilometern überqueren wir die Grenze von Espirito Santo nach Bahia. Bahia ist der fünftgrößte Bundesstaat und etwa so groß wie Frankreich. Knapp 1.000 Kilometer der obengenannten „BR-101“ verlaufen allein durch Bahia. Die Hauptstadt von Bahia ist Salvador. Wenn nicht das Ziel, so doch der Wendepunkt unserer Reise.
Die Landschaft ist geprägt von karger Vegetation, versetzt mit Eukaliptus-Plantagen. Dieser Baum ist in Brasilien nicht heimisch, wächst aber wohl auch auf anspruchslosem Gelände und lässt sich zu Möbeln und Papier verarbeiten.
Das Gelände ist nach wie vor hügelig bis gebirgig, entsprechend ist der Straßenverlauf. Unzählige schwerstbeladene LKWs quälen sich im Schritttempo die Hänge hinauf. Doch auch bergab kommen sie vielfach nicht viel schneller voran. Ich vermute mal, sie trauen – mit Recht – ihren Bremsen nicht allzu viel zu.
Viele Brasilianer besitzen – nach den waghalsigen Überholmanövern zu schließen, ein sehr ausgeprägtes Gottvertrauen. Immer wieder drängen Autofahrer millimetergenau in die Lücke vor uns, um so einen Platz gut zu machen.
Wir kommen vorbei am Nationalpark Monte Pascoal. Dieser Park wird heute von Indios verwaltet. In drei Stunden kann man den Berg erklimmen und dort auf das 38 km entfernte Meer hinabblicken. Vor gut 500 Jahren, als die ersten Portugiesen hier landeten, war es umgekehrt. Sie erblickten vom Meer aus diesen Berg.
Wir sind inzwischen angelangt an der „Costa do Descobrimento“, der „Entdeckungsküste“. Hier begann die Eroberung Brasiliens durch die Weißen. Hier liegt auch das Ziel unserer Tagesetappe: Trancoso.
Trancoso ist ein beliebter Urlaubsort, der jedoch – so die Beschreibung – einen ganz besonderen Charme besitzen soll. Nach einem langen Dornröschenschlaf wird der Ort in den siebziger Jahren von den sogenannten Hippies wieder entdeckt.
Unsere Pousada in Trancoso erweist sich – zum zweiten Mal auf dieser Reise – als kleines Paradies. Ein wenig abseits vom Ortszentrum gelegen sind kleine Appartmenthäuschen in einem weitläufigen Garten verteilt. Viel Holz, viel Keramik. Ein wunderbar natürliches Ambiente, welches uns sofort in den Bann zieht. Allerdings ist es hier in Trancoso nicht der Charme von alten Gemäuern, sondern vielmehr das harmonische Zusammenspiel von Natur und Bauwerk.
Von der Besitzerin und ihrer Tochter erfahren wir, dass die Pousada seit fast 30 Jahren existiert. Früher, als der Ex-Ehemann, der Deutsch, Englisch und Spanisch spricht, noch da war, kamen viele ausländische Gäste hierher. Nun will die Tochter richtig Englisch lernen, um daran wieder anknüpfen zu können. Die Sprachbarriere ist nach wie vor ein großes Hemmnis für den internationalen Tourismus. Kaum ein Nicht-Brasilianer beherrscht dieses exotische Portugiesisch. Und nach wie vor sprechen wenige Brasilianer gutes Englisch.
Auf dem Gelände könnten sie jederzeit eine große Anzahl von hühnerkäfiggroßen Gästezimmern errichten und damit vermutlich einen deutlich größeren Profit erzielen. Wir sind Ihnen dafür dankbar, dass sie es nicht tun.
Zum Abendessen begeben wir uns zum „Quadrado“, dem angeblich schönsten Platz an der gesamten brasilianischen Küste. Und die ist über 7.000 km lang. Nun, der Platz ist nicht quadratisch, sondern hat eher die Form eines langgestreckten Rechtecks. Der Rand des Platzes ist gesäumt von vielen kleinen Geschäften sowie Restaurants und Bars. Wir folgen der Empfehlung unserer Gastgeber und speisen im „Sabor da Bahia“ („Geschmack von Bahia“). Gegrillter Fisch mit Reis und Salat, dazu noch ein Teller mit gebratenen Shrimps („camarão“) sowie für mich eine Caipirinha. Besser geht’s nicht.
Wo aber ist der Strand? Auf meine Frage an eine Frau aus dem Ort bekomme ich die sinnige Antwort, dass wir morgen früh einfach dem Fluss der Menschen („fluxo“) folgen sollen. Ach ja, es ist Hochsaison.
Wir betten uns zur Nachtruhe. Klimaanlage ist zwar vorhanden, bleibt aber ausgeschaltet. Stattdessen lassen wir den Deckenventilator kreisen und – öffnen die Fenster. Ja, es gibt Moskitos, aber auch Moskitonetze, welche in weichen Wellen von Decke herabhängen und die Betten umfassen.
Samstag, 16. Januar 2010
6 Uhr morgens. Die himmlische Ruhe weckt mich. Das Aufstehen ist schwerelos. Bei Tageslicht offenbart die „Pousada do Bosque“ („Waldpension“) ihre ganze Pracht. Ein grünes Meer mit kleinen bunten Inseln in Form von individuell gestalteten Appartmenthäuschen. Ein Genuss für Mensch und Hund.
Das Frühstücksbuffet lässt keine Wünsche offen. Gut gesättigt richten wir den Blick in den Tag. Wie schon bei unserer ersten Station nehmen wir uns die Freiheit, noch einen Tag zu bleiben. Wir müssen zwar in ein anderes Appartment umziehen, aber das ist rasch erledigt.
Es wird schnell heiß. Strand oder nicht Strand? Die Meinungen sind geteilt. Während Damen und Hund es vorziehen, in der Hängematte zu entspannen, machen die Männer sich zu Fuß auf den Weg zum Strand. Hoch zum zentralen Platz, dem Quadrado. Am Ende des Platzes bei der Kirche empfängt uns ein überwältigender Ausblick auf den „Kokospalmenstrand“ („praia dos coqueiros“). Palmen, weißer Sand, grün schimmerndes Meer – wie gemalt.
Ein weitgehend schattiger Weg führt hinunter zu diesem Idyll. Am Strand angekommen, fällt unser Blick auf bequeme Liegen aus Holz mit Matten aus irgendeinem strohartigen Material, komplettiert durch ansprechende Kissen. Ob die wohl zu einem Hotel gehören? Nein, zu einer Bar. Und wir können uns nach Belieben niederlassen. Die Einladung nehmen wir gerne an, bestellen gleich zwei „águas de côco“ – eisgekühlte grüne Kokosnüsse, in die ein Loch geschlagen wird, damit man das Kokoswasser mit einem Strohhalm genießen kann. Anschließend wird die leere Nuss mit brachialer Gewalt in zwei Teile zerteilt, damit man das zarte Fruchtfleisch mit Hilfe eines Löffels verzehren kann. Also nicht nur ein Getränk, sondern ein kleiner Imbiss.
Für das leibliche Wohl sorgen nicht nur die Bediensteten der Bar, sondern auch ungezählte „ambulante Verkäufer“, die allerhand Leckereien anbieten. Einer kommt gar mit einem großen Tablett gebratener Langusten (!) vorbei. Nein, das wollen wir aus Prinzip nicht.
Nach der Mittagsruhe begibt sich die ganze Familie zum Strand, Hund inklusive. Mittlerweile ist der Wasserspiegel angestiegen. Von dem breiten Strand am Vormittag ist nur noch ein kleiner Streifen übrig. Herrliche Wellen locken uns ins Wasser. Hund exklusive. Bald wird es dunkel. Zeit zur Rückkehr in die Pousada, um sich für das Abendessen („jantar“) fertigzumachen. Es wird wieder Fisch, heute mit Shrimpssoße („molho de camarão“). Als Vorspeise Krebsfleisch („casquinha de siri“). Wir vergessen für einen Moment, dass die Weltmeere leergefischt werden und genießen das Essen in vollen Zügen.
Sonntag, 17. Januar 2010
Wir verlassen unser kleines Paradies. Ziel der heutigen Tagetappe: Salvador da Bahia, Heimat meiner Schwiegermutter. Wendepunkt unserer Reise. Die Abreise verzögert sich. Keiner kann sich so richtig losreißen. Dann siegt doch die Vernunft. Wir verlassen Trancoso mit einem lautlosen Seufzer und nehmen Kurs auf die BR-101 Richtung Norden. Das Meer werden wir erst in Salvador wiedersehen. Die Straße verläuft 50 bis 100 Kilometer im Landesinneren. 720 Kilometer sind zurückzulegen. Heute, am Sonntag, ist das Verkehrsaufkommen deutlich geringer als am vergangenen Freitag. Insbesondere sind viel weniger LKWs unterwegs. Doch die Straße bleibt kurvenreich. Im Ergebnis kommt unsere Durchschnittsgeschwindigkeit – inklusive Pausen – über 65 km/h nicht hinaus. Geschätzte Ankunftszeit also gegen 22 Uhr.
Diese Aussicht trübt jedoch die Stimmung in keiner Weise. Wenn wir heute unser Ziel nicht mehr erreichen, so wird sich unterwegs eine Pousada finden, die uns aufnimmt. Im Abstand von ca. 50 Kilometer durchfahren wir Ortschaften von kleinerer und mittlerer Größe. Keine davon lädt wirklich zum längeren Verweilen ein. Bahia ist ein reicher Bundesstaat. Doch der Reichtum ist hier besonders stark konzentriert.
Dunkelheit macht sich breit. Ausgedehnte Dämmerung wie man sie in mitteleuropäischen Breiten gewohnt ist, findet hier nicht statt. Die Sonne macht sich hier ruckzuck aus dem Staub. Jetzt ist höchste Konzentration gefragt. Reflektierende Straßenmarkierungen – Fehlanzeige. Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen in der Nähe von bewohnten Gebieten die „lombadas“, wulstartige Erhebungen im Straßenbelag, die nur im Schritttempo überquert werden können, will man die Unversehrtheit des Fahrzeugs und seiner Insassen nicht aufs Spiel setzen. Und dann wären da immer mal meist dunkelhäutige Fußgänger, die plötzlich im Scheinwerferlicht am Straßenrand auftauchen. Es ist also für Abwechslung gesorgt.
Die letzten hundert verlaufen auf einer vierspurigen Straße. Dann mal richtig Gas geben. Ich bin am Steuer. Hundertprozentig aufmerksam. Dennoch kann ich dem Schlagloch nicht ausweichen. Der heftige Schlag wirbelt allerlei Gegenstände im Fahrzeuginneren durcheinander. Vom linken Vorderrad vernehmen wir ungewünschte Geräusche, die Gott sei dank verebben. Hat das spontane Stoßgebet augenblicklich gewirkt? Die Gegend ist stockdunkel. Hier anzuhalten und einen Reifen zu wechseln wäre kein Spaß.
Das Material hält. „Volkswagen. Das Auto.“ Mit diesem Slogan, in diesen deutschen Worten, wirbt Volkswagen hier in Brasilien. Ist doch was dran an der sprichwörtlichen deutschen Qualität?
Wir erreichen Salvador. Jetzt nur noch das Haus meiner Schwiegermutter finden. Streng genommen gehört das Haus uns. Insofern hat es etwas Groteskes: Hausbesitzer auf der Suche nach ihrer Immobilie. Als Orientierungspunkte dienen uns der Flughafen und der „Praia de Flamengo“, der „Flamengo Beach“. Mit vereinten Kräften gelangen wir ans Ziel. Welche Freude, welche Erleichterung.
Montag, 18. Januar 2010
Mit dem sanften Rauschen des Atlantiks schlafen wir erschöpft ein. Mit dem sanften Rauschen des Atlantiks wachen wir ausgeruht auf. Der Hund wie immer als Erster. Es ist kurz nach sechs Uhr morgens. Er will raus. Heute bin ich dran. Dann nichts wie zum Strand. Zu Fuß gerade mal fünf Minuten. Dieser Strand gehört nun uns. Für die nächsten 8 Tage.
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