Montag, 5. Oktober 2009

Montag, 5. Oktober 2009

BRASILIEN – DIE ZUKUNFT HAT BEGONNEN


„Rio 2016“, das bedeutet mehr als ein Sportereignis in einem tropischen Land. „Rio 2016“ ist ein Meilenstein auf dem Weg Brasiliens von der zweiten in die erste Reihe. Eine Nation erhält die Anerkennung, nach der es jahrzehntelang gedürstet hat.


Im Jahr 2016 wird – nach Prognosen der Weltbank – Brasilien voraussichtlich die fünftgrößte Wirtschaftsnation dieser Welt sein – hinter USA, Japan, China und vermutlich Deutschland. „G7“ ist Geschichte.


In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts lautete ein beliebter Spruch: „Brasilien ist das Land der Zukunft. Leider weiß niemand, wann diese Zukunft beginnen wird.“ Diese Frage darf nun als beantwortet gelten. (Karl Valentin hätte womöglich ergänzt, dass früher sogar die Zukunft besser war.) Zu dieser Zeit wurden auch Aussagen getroffen wie: „Dieses Jahr ist zwar nicht so gut wie das letzte, aber dafür besser als das nächste.“


Die Wirklichkeit des Durchschnittsbrasilianers in den 80er und Anfang der 90er Jahren war geprägt von bis zu 1000% Inflation pro Jahr, wirtschaftlicher Instabilität, schreiender Armut, schamloser Korruption und internationaler Bedeutungslosigkeit. Und dann auch noch 24 Jahre lang kein Gewinn der Fußballweltmeisterschaft. (Wir erinnern uns: 1970 gewann Brasilien seinen dritten Titel, zum dritten Mal mit Pelé. Danach erst wieder 1994 in den USA.) Natürlich bietet eine solche Umgebung keinen Raum für Zukunftsoptimismus.


Vorbei damit. Das nächste Jahrzehnt wird das Jahrzehnt Brasiliens sein. Davon bin ich inzwischen auch persönlich überzeugt. Präsident Lula ist selbstbewusst wie keiner seiner Vorgänger. Und das aus guten Gründen. Ein Erfolg reiht sich an den nächsten. Hier eine vermutlich unvollständige Aufzählung:


  • ERDÖL: Unter dem Meeresboden vor der Küste Brasiliens wurden erhebliche Erdölvorräte entdeckt. Man darf davon ausgehen, dass das Land in wenigen Jahren ein weltweit bedeutender Exporteur von Energie, Biokraftstoffen und Erdölprodukten sein wird. (Dass das in Bezug auf Klimaschutz keine gute Nachricht ist, ist eine andere Sache – s.u.)
  • DEVISEN: Das frühere Schuldnerland Brasilien ist heute mit über 200 Milliarden Dollar Devisenreserven einer der größeren Gläubiger der USA.
  • KRISE: Ausgerechnet das ehemals chronische Krisenland Brasilien wird die Weltwirtschaftskrise weitgehend unbeschadet überstehen. Viel mehr als ein Jahr Stagnation wird es nicht geben. Zwei der weltweit größten Börsengänge dieses Jahres fanden in Brasilien statt.
  • WOHLSTAND: Die Unterschiede zwischen arm und reich sind nach wie vor extrem groß. Der Abstand der Diskrepanz zu anderen Ländern wird aber geringer. Einerseits dadurch, dass die Wohlstandsschere in den industrialisierten Ländern, auch in Deutschland, immer weiter aufgeht. Andererseits konnten mit einer Reihe von Sozialprogrammen der Regierung Lula ca. 30 Millionen Menschen in Brasilien die Armutszone verlassen.
  • COPA 2014 & RIO 2016: Brasilien wird im nächsten Jahrzehnt gleich zwei Mega-Events ausrichten: Die Fußballweltmeisterschaft 2014 („COPA“) und die Olympischen Spiele 2016. In dieser zeitlichen Konzentration haben das bislang nur Mexiko (1968/70), Deutschland (1972/74) und die USA (1994/96) bewältigt.


In der Pressekonferenz nach der Entscheidung zugunsten von Rio de Janeiro legte Präsident Lula die Befindlichkeit der brasilianischen Seele in sehr deutlicher Weise offen: Brasilien war einst Kolonie. Also Folge davon fühlten sich die Brasilianer stets klein und minderwertig gegenüber den Großen dieser Welt. Daraus resultierte schließlich dieser leidenschaftliche, ja schon verzweifelte Wunsch, diese eine Gelegenheit zu erhalten, der Welt zu zeigen, „dass wir es können“. „Gebt uns eine Gelegenheit, nur diese eine Gelegenheit.“


FALA PORTUGUÊS?


Fangt also schon mal an, portugiesisch zu lernen. Die Brasilianer sind nämlich nicht gerade für ihre ausgeprägte Fremdsprachenkompetenz bekannt – um es mal vorsichtig auszudrücken. Aber das ist ja in allen großen Ländern so, wo Landes- und Sprachgrenzen nicht zur Alltagserfahrung gehören. Vielleicht ist es auch eine romanische Eigenheit. Jeder, der mal versucht hat, in Frankreich, Italien, Spanien oder Portugal auf Englisch eine Auskunft zu erhalten, weiß, was ich meine.


Im Vorfeld der beiden Großereignisse „COPA 2014“ und „RIO 2016“ will die Regierung nun massiv das Erlernen von Fremdsprachen, insbesondere Englisch und Spanisch, fördern. Schau’ma’mal.


Kleiner Tipp: Falls jemand meiner Empfehlung folgen sollte, dann bitte „Brasilianisches Portugiesisch“ lernen. Die Unterschiede zwischen brasilianischem und portugiesischem Portugiesisch – Aussprache, Vokabular und auch Grammatik – sind nämlich beträchtlich.


UND DAS KLIMA?


Jetzt erlaube ich mir mal, „typisch deutsch“ zu sein. Im Augenblick des Triumphs hebe ich den mahnenden Zeigefinger: „Ja, aber…!!! Was ist mit dem Klimaschutz?“ In der ganzen Klimadiskussion spielt Brasilien eine ambivalente Rolle.


Auf der Positivseite steht eine der nachhaltigsten Energieproduktionen weltweit. Das muss man sich mal ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen: Brasilien verfügt über eine der nachhaltigsten Energieproduktionen weltweit. Warum?


Grund 1: Die Biotreibstoffe, allen voran Alkohol aus Zuckerrohr, welcher landesweit flächendeckend verfügbar ist und naturgemäß eine wesentlich bessere CO2-Bilanz aufweist als Benzin.


Grund 2: Die zahlreichen Wasserkraftwerke dieses Landes, welche mehr als 80% des Strombedarfs decken. Reinster Ökostrom also.


Doch es gibt auch eine Negativseite. Insgesamt produziert Brasilien jährlich ca. 1,4 Mrd. Tonnen CO2. Damit ist Brasilien der fünftgrößte Treibhausgasproduzent weltweit – hinter China, USA, Russland und Indien. Bei 190 Millionen Einwohnern macht das ca. 7,5 Tonnen pro Kopf und Jahr. Zum Vergleich: Deutschland kommt auf ca. 10 Tonnen pro Kopf und Jahr.


Wie kann es sein, dass der Durchschnittsbrasilianer, der nicht heizen muss, der viel weniger Auto fährt (weil er in vielen Fällen sich keines leisten kann), und wenn dann mit Biokraftstoffen, fast genau so viel CO2 produziert wie der Durchschnittsdeutsche?


Die Antwort ist so einfach wie deprimierend: 75% aller CO2-Emissionen in Brasilien entstehen durch die Brandrodungen in Amazonien. Ohne den brennenden Regenwald wäre Brasilien ein weltweites Vorbild in Sachen Klimaschutz & Nachhaltigkeit.


Der Regenwald Amazoniens bietet aber auch eine immense Chance. Gelingt es Brasilien, die Brandrodungen zu bremsen oder gar zu stoppen, kann das Land mehr gegen die Klimaerwärmung tun als die meisten anderen Staaten dieses Planeten. Einen Plan der Regierung dazu gibt es seit Ende letzten Jahres: Bis 2017 soll die „Entwaldungsrate“ schrittweise um insgesamt 72% reduziert werden.


Zum Ausmaß der Waldzerstörung gibt es unterschiedliche Angaben. Die Regierung geht von 19.000 km2 pro Jahr aus. Greenpeace spricht von 30.000 km2 pro Jahr, das entspricht etwa der Größe Belgiens. Ab 2017 sollen dann nach Wunsch der Regierung jährlich nur noch 5.000 km2 abgeholzt werden. Weniger schlimm ist auch besser.Die gesamte Menschheit muss hoffen, dass dieser Plan gelingen möge.

SÃO FRANCISCO


„São Francisco“ ist der Name unseres Stadtteils („bairro“) und auch unserer Kirchengemeinde („paróquia“). Damit halt es folgende Bewandtnis.


1938 machten sich eine Handvoll Franziskanermönche aus der „Provinz“ Thüringen-Fulda auf den Weg nach Brasilien, um dort missionarisch zu wirken. Zahlreiche weitere Ordensbrüder folgten wenige Jahre später auf der Flucht vor Gestapo und Nazi-Terror. Im Jahre 1950 schließlich wurde mit dem Bau der Kirche („igreja“) zu Ehren des Franz von Assisi begonnen (s. Foto).


Der 3. Oktober ist nicht nur der Tag der deutschen Einheit, sondern auch der Gedenktag des hl. Franziskus. Letzteres war Anlass zu einem fröhlichen Gemeindefest mit – selbstverständlich! – „Churrasco“ vom Feinsten. Dabei durften wir „Frei Miguel“ kennen lernen. („Frei“ ist das hiesige Wort für Ordensbruder.) Frei Miguel hieß früher mal Michael, ist Jahrgang 1934 und kommt nicht etwa aus Osnabrück, Gelsenkirchen, Kassel oder Braunschweig. Nein, er ist Pfälzer, gebürtiger Speyerer und ehemaliger Schüler des Kaiserdom-Gymnasiums. So klein ist die Welt.

Frei Miguel lebt und arbeitet seit mehr als 45 Jahren als Seelsorger in Brasilien. Dem unverkennbaren Pfälzer Dialekt hat das keinen Abbruch getan.


Ich wünsche allen eine schöne Woche mit hoffentlich viel goldenem Oktoberwetter.


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