JUGENDLICHE INTUITION
Am vergangenen Donnerstag weckte ich meinen Sohn mit der Aufforderung: „Rate mal, wer den diesjährigen Friedensnobelpreis bekommen hat.“ In den Medien war die Entscheidung einhellig als „sensationell und unerwartet“ beurteilt worden. Mein Sohn Marcus, noch im Halbschlaf, ließ mich nicht lange auf die Antwort warten. Die richtige Antwort.
GRENZERFAHRUNGEN
1979: August. Die Tinte im Führerschein ist noch feucht. Mit dem noch recht gut erhaltenen Opel Kadett des Vaters auf nach Spanien. 4 Jahre nach Francos Tod, 2 Jahre vor dem – Gott sei dank – gescheiterten Putschversuch rechter Militärs. Bei Nacht und Nebel über die Pyrenäen, hinein ins Baskenland. Die zweisprachigen Verkehrsschilder, auf denen der spanische Namen mit schwarzer Farbe übersprüht ist, haben im fahlen Scheinwerferlicht etwas Unheimliches.
1986: Tagesausflüge von Berlin (West) nach Berlin (Ost). Einmal muss ich an der Grenze all meine Taschen leeren. Und siehe da, ich habe 20 DDR-Mark bei mir. So was. Die Ausfuhr von Zahlungsmitteln der Deutschen Demokratischen Republik war ja strengstens verboten. Folglich auch deren Besitz außerhalb der Grenzen der DDR. Eine resolute Grenzsoldatin befragt mich ungefähr eine Stunde lang nach der Herkunft dieses lächerlichen Geldscheins. Meine Auskünfte findet sie offenbar nicht zufriedenstellend („In irgendeiner Kneipe hat mir irgendjemand das Geld geschenkt.“). Sie kontaktiert die nächst höhere Dienststelle. Ihr Gesprächspartner hat jedoch augenscheinlich nicht die geringste Lust, sich von solch einer Lappalie den Sonntag vermiesen zu lassen und plädiert auf Einstellung des Verfahrens. Das Geld wird konfisziert, und ich darf meiner Wege ziehen.
1987: Algeciras, Spanien. Es ist bereits dunkel. Die Fähre nach Tanger, Marokko, legt ab. Afrika ist nur wenige Stunden entfernt. Vielleicht hätte ich doch ein Quartier reservieren sollen. Bei der Ankunft ist es immerhin bereits Mitternacht. Alles fügt sich. Ein freundliches marokkanisches Ehepaar, Gastarbeiter in Spanien, nimmt sich meiner an, begleitet mich zu einer vertrauenswürdigen Pension. Allah ist groß.
1988: Januar. Von Wien nach Budapest. Der eiserne Vorhang ist noch intakt. Es ist kalt. Sehr kalt. Der VW Golf Diesel ist ein Haufen Schrott. Kurz vor Budapest fängt der Motor an zu stottern. Mit letzter Kraft erreiche ich einen Parkplatz neben einem großen Gebäude mit einer mir völlig unverständlichen Aufschrift. Später erfahre ich, dass es sich um den Bahnhof handelt. Es folgen abenteuerliche Tage.
1991: San Diego, Kalifornien. Mit dem Auto südwärts, so weit es geht. Dann zu Fuß über die Grenze nach Mexiko. Der Hinweg war einfach. Auf Rückweg muss ich sehr viele Fragen sehr detailliert beantworten, bevor ich wieder US-amerikanischen Boden betreten darf.
2009: Bela Vista, Brasilien. Durch einen Fluss namens Apa getrennt von Bella Vista, Paraguay. Grenzen üben seit jeher eine merkwürdige Anziehung auf mich aus.
Der 12. Oktober ist ein nationaler Feiertag in Brasilien, der Tag der Schutzpatronin des Landes („Nossa Senhora Aparecida“). Wir nutzen das verlängerte Wochenende für einen Ausflug nach Bela Vista, ca. 320 km südwestlich von Campo Grande.
Für die Fahrt muss man ca. 4 Stunden veranschlagen. Die Straße ist zwar komplett asphaltiert, aber nur zweispurig. Ein Leckerbissen für Freunde der kontemplativen Fahrweise wie mich.
Eine vierspurige Autobahn wäre hier auch zu viel des Guten. Bisweilen begegnet uns nur alle fünf Kilometer ein Auto. Zur Erinnerung: In dem Bundesstaat Mato Grosso do Sul von der Größe Deutschlands leben ca. 2,5 Millionen Menschen.
Bela Vista ist eine Kleinstadt mit ca. 25.000 Einwohner und genau einer Ampel. Mehr braucht es nicht. Das Leben dort ist eher beschaulich. Die Leute leben von der Landwirtschaft. Und von den „oportunidades“ („opportunities“), die sich aus der unmittelbaren Nähe zu Paraguay ergeben.
Genau gesagt, aus dem Preisgefälle. Paraguay ist ein armes Land, auch in Relation zu Brasilien. So gibt es etwa in Bela Vista (Brasilien) keine einzige Tankstelle, da auf paraguayischer Seite Benzin und Alkohol (Ethanol) etwa um ein Drittel billiger sind. Die Grenze ist, spätestens seit der Etablierung des Mercosul, der Wirtschaftsunion zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, weit offen. Viele Brasilianer besitzen Land in Paraguay. Viele Paraguayer arbeiten in Brasilien.
PARAGUAY
Das (neben Bolivien) einzige Land Südamerikas ohne Zugang zum Meer war nicht immer arm. Bis 1864 war Paraguay einer der wirtschaftlich fortschrittlichsten und mächtigsten Staaten der Region. Sechs Jahre später, nach Ende des sog. Tripel-Allianz-Krieges (Brasilien, Argentinien und Uruguay gegen Paraguay), hatte das Land etwa 50% seines Territoriums und etwa 75% (!) seiner Einwohner verloren. Von diesem Schlag hat das Land sich bis heute nicht erholt. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass es in diesem Konflikt viele Opfer auf allen Seiten gab – 2 Millionen insgesamt – und eine Einteilung der Konfliktparteien in Gut und Böse nur bedingt möglich ist.
Als wäre das nicht genug, musste die geschundene Bevölkerung dann auch noch 35 Jahre Diktatur unter Herrn Stroessner erdulden. Wir erinnern uns: Das war jener Herr, dem mein ehemaliger Landesvater F.J. Strauß einen netten Besuch abstattete.
Eine Cousine von Oriana lebt in Bela Vista. Sie ist Paraguayerin, verheiratet mit einem Brasilianer, und stolze Besitzerin einer Fazenda in Paraguay. Dort verbringen wir das Wochenende. Der Weg dorthin führt – von der Grenze aus – über 35 Kilometer ungeteerter Straße. Der Straßenbelag ist die für die Gegend typische rotbraune Erde. In trockenem Zustand – kein Problem. Bei Regen sollte man jedoch nicht – wie wir – mit einem „City Car“ unterwegs sein, sondern lieber mit einem geländegängigen vierradgetriebenem Fahrzeug. In der untergehenden Sonne erreichten wir unser Ziel.
Vermutlich der abgeschiedenste Ort, an dem ich mich je aufgehalten habe. Diese Abgeschiedenheit ermöglicht einen sehr engen Kontakt mit der Natur. So wurde als eine der ersten Maßnahmen eine handtellergroße Spinne („Caranguejeira“) mit behaarten Beinen („Die tut nichts.“) gebeten, doch bitte das Schlafzimmer zu verlassen.
Später durften wir eine ca. 20 cm lange Kröte („sapo“) begrüßen und dabei beobachten, wie sie im Sekundentakt Moskitos und andere Insekten verspeiste. Unser Hund hatte ein derartiges Lebewesen noch nicht gesehen und war entsprechend irritiert. Wild bellend sprang er vor der Kröte hin und her, traute sich jedoch nicht, das Tier zu attackieren. Beeindruckend, mit welch stoischer Ruhe die Kröte dies über sich ergehen ließ.
Am Sonntagvormittag wird gewandert. Im Wald. Das darf man sich jetzt nicht vorstellen wie im Pfälzer Wald. Gekennzeichnete Wege gibt es nicht direkt. Auch keine Hütten mit Verpflegung. Dafür jede Menge Gelegenheiten, sich zu verirren.
In der Zwischenzeit wird das Mittagessen zubereitet. Churrasco. Was sonst. Dieses Mal jedoch nicht über Kohle, sondern über Holz gebraten. Dazu Reis, Salat, gekochte Mandiokwurzeln.
In der folgenden Nacht zeigt die Natur, wer der Herr im Haus ist. Sturm, peitschender Regen, Stromausfall. 100 Millimeter Niederschläge in einer Nacht. Zum Vergleich: Die jährliche Niederschlagsmenge in Deutschland beläuft sich auf 700 Millimeter.
Und da standen wir nun, mit unserem City-Car. Vor uns 35 Kilometer ohne Asphalt, vom Regen aufgeweicht. Trotz niedriger Geschwindigkeit ist da nichts mit kontemplativer Fahrweise.
Wie gut, dass ich seinerzeit, mit ca. 15 Jahren, meiner erste Er-Fahr-ungen auf den Feldwegen rund um den elterlichen Hof machte. Ausgestattet mit diesen unbezahlbaren Erfahrungen konnte ich uns wohlbehalten zurück in die sog. Zivilisation bringen.
FOTOS
Mehr Fotos gibt es hier.
Der 12.Oktober ist nicht nur nationaler Feiertag in Brasilien, sondern auch der Geburtstag unseres Sohnes Marcus. 14 ist er, der Kleine. Feliz Aniversário!
Ich wünsche Euch allen eine schöne Woche – mit viel menschlicher Wärme gegen die in Deutschland sinkenden Temperaturen.
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