Sonntag, 25. Oktober 2009

Sonntag, 25. Oktober 2009

MEIN ALLTAG


Was meine Kinder hier machen, habe ich bereits verschiedentlich dargestellt: Schule, Hausaufgaben, Karate etc. Meine Frau hat inzwischen angefangen, sich medizinisch zu betätigen. Bleibt die Frage, was ich eigentlich den ganzen lieben langen Tag hier so treibe. Hier kommt die Antwort.


Zunächst ist da die – auch für mich selbst – überraschende Erkenntnis: Obwohl ich keiner Erwerbsarbeit nachgehe, ist Zeit ein knappes Gut. Von Langeweile keine Spur. Es folgt ein typischer Tagesablauf.


Der Tag beginnt zwischen 6 Uhr und 6:30 Uhr. Zu dieser Zeit ist es bereits hell. An jedem Tag des Jahres. Frühstücken, E-Mails lesen und beantworten, Online-Nachrichten lesen, Zeitung lesen. Eine Stunde Workout in der Academia. Täglich. Montag bis Samstag. Es folgen unentgeltliche Beratungsleistungen für Hausaufgaben sowie privater Englischunterricht für meine Kinder. Mittlerweile ist es 11 Uhr. Zeit, um mit den Vorbereitungen für das Mittagessen zu beginnen. Gegen 12:15 Uhr Mittagessen („Almoço“). 12:45 h: Die Kinder verlassen das Haus in Richtung Schule.


Die Gestaltung des Nachmittags obliegt meiner Kreativität: Bücher lesen, Aktivitäten in der Stadt, Blog schreiben, Veranstaltungen besuchen, Leute treffen, Kurse besuchen etc. Ruckzuck ist es Abend, die Kinder kommen aus der Schule. Noch Fragen?


WEITERBILDUNG


Der Imperativ des lebenslangen Lernens bleibt natürlich auch während einer beruflichen Auszeit in Kraft. Dieser Erkenntnis folgend, habe ich in der vergangenen Woche meinen ersten Kurs absolviert. Anbieter des Kurses ist die Institution SEBRAE – eine Mischung aus Volkshochschule und IHK.


Thema des 4-tägigen Kurses: „Kommunikation“, insbesondere das freien Sprechen vor Publikum.Nun habe ich ja eine gewisse Erfahrung, was das Sprechen vor Publikum anbelangt. Diese beschränkte sich bislang jedoch auf die Sprachen Deutsch und Englisch. Meine Kenntnisse der portugiesischen Sprache sind – bei aller Bescheidenheit – recht ordentlich. Das freie Sprechen vor Publikum in dieser Sprache war dann aber doch eine Herausforderung.


Ich wiederhole mich vermutlich, wenn ich sage, dass wir alle mit den Herausforderungen wachsen. Am vorletzten Kurstag durften alle Kursteilnehmer nacheinander die Bühne für sich beanspruchen und das Publikum bis zu 5 Minuten mit einem interessanten Redebeitrag in den Bann ziehen – vor laufender Kamera. Am letzten Kurstag wurden die Aufnahmen seziert und analysiert. Eine Übung mit enormem Erkenntniswert. Einen Auszug aus meinem Redebeitrag - natürlich mit einem gediegenen bayerischen Akzent - gibt es hier zu sehen und zu hören.



SPRACHE


Apropos Sprache. Die portugiesische Sprache gilt als Weltsprache, also als eine jener Sprachen, welche als Verkehrssprache weit über ihr ursprüngliches Sprachgebiet hinaus Bedeutung erlangt hat. Trifft zu, wenn man vom kleinen Portugal auf das große Brasilien schaut.


Wenn man die Sprachen der Welt nach der Anzahl der Muttersprachler sortiert, so findet sich Portugiesisch auf Platz 6, hinter Mandarin, Spanisch, Englisch, Hindi/Urdu und Arabisch – vor Bengalisch und Russisch. Zählt man diejenigen Personen hinzu, welche eine Sprache als Zweitsprache sprechen, so ziehen Bengalisch und Russisch vorbei und wverweisen Portugiesisch auf Platz 8.


Portugiesisch hat sich im Laufe der Jahrhunderte, wie alle anderen romanischen Sprachen, aus dem sog. Vulgärlatein entwickelt, das die römischen Besatzer und Siedler auf die iberische Halbinsel mitbrachten. Es weist jedoch gegenüber anderen romanischen Sprachen einige Besonderheiten auf.


So hat das Portugiesische die sog. Lautverschiebung im Spanischen nicht mitgemacht. Im Spanischen findet man heute zahlreiche Wörter mit einem „h“, wo ursprünglich mal ein „f“ stand. Beispiele:

  • Spanisch: hacer, hoja, hija, hacienda, almohada
  • Portugiesisch: fazer, folha, filha, fazenda, almofada

Interessant ist auch die Form der Anrede. In den vielen Sprachen gibt es ja eine Anredeform für die „Nähe“ (Du) und für die „Ferne“ (Sie). So auch im Portugiesischen. Die Höflichkeitsform wird grammatikalisch mit der 3. Person gebildet – wie im Italienischen und Spanischen auch (im Gegensatz zum Französischen, welches die 2. Person Plural benutzt).


Aber jetzt die „Du“-Form. Während in Portugal und im Süden von Brasilien noch die „tu“-Form verwendet wird, kennt der größte Teil Brasiliens nur das „você“ (grammatikalisch mit der 3. Person). „Você“ ist die Verschmelzung von „vossa mercê“, was so viel wie „Euer Gnaden“ bedeutet.


Dies bedeutet, dass die Brasilianer, wenn sie sich duzen, kurioserweise eigentlich eine alte Höflichkeitsform verwenden. Dadurch gewinnt das „você“ eine viel größere „semantische Breite“ als etwa das deutsche „Du“. Will sagen: In Brasilien landet man sehr schnell beim „você“. In der Werbung etwa wird ausschließlich diese Form verwendet.


Das „Schmankerl“ für Freunde der Grammatik ist jedoch ganz klar der „persönliche Infinitiv“ in der portugiesischen Sprache. Wie bitte? Haben wir nicht in zahllosen, nicht enden wollenden Lateinstunden gelernt, dass der Infinitiv unveränderlich ist? Nicht so im Portugiesischen. Wollte man das ins Deutsche übertragen, so kämen Sätze zustande wie der Folgende: „Vor dem Du-gehen aus dem Haus, solltest Du noch etwas essen.“


Wieder was gelernt. Genug für heute.


CITY-TOUR


Samstagmorgen, 9 Uhr. Strahlend blauer Himmel. Sonnenschein. Geschätzte 28 Grad. Was fangen wir mit diesem herrlichen Tag an? Wir sind uns einig: Das ist die Gelegenheit, endlich mal – nach knapp drei Monaten – die hiesige Stadtrundfahrt zu machen.


Aus Deutschland habe ich die Erfahrung mitgenommen, dass eine mir unbekannte Stadt sich mir am besten mit einer Stadtführung erschließt. Zu Fuß. Die Ausmaße unserer Stadt Campo Grande erlauben es jedoch nicht, die wichtigsten „pontos turísticos“ in überschaubarer Zeit abzuschreiten. Also mit dem Bus. Unten klimatisiert, oben offen. Wir sitzen oben. Tolle Aussicht. Vorsicht beim Unterqueren von Stromleitungen. Auch einzelne Äste der zahlreichen Bäume der Stadt können schon mal gegen die Mindestdurchfahrtshöhe verstoßen. Abenteuer halt.


Vieles kennen wir natürlich bereits. Neu ist für mich jedoch etwa die Tatsache, dass Campo Grande die erste brasilianische Landeshauptstadt („capital“) war, welche Elendsviertel („favelas“) erfolgreich „saniert“ hat. Und zwar durch – so würden wir das in Deutschland wohl nennen – sozialen Wohnungsbau und soziale Unterstützung anderer Art.


Oder aber, dass im ältesten Hotel der Stadt einst Che Guevara übernachtete – wenngleich unter falschem Namen. Von hier aus sind es ja nur ca. 300 km bis zur bolivianischen Grenze. Und dort ist er ja zu Tode gekommen.


DOG TRAINER


Unsere Tochter entwickelt sich langsam aber sicher zur kompetenten Hundetrainerin („treinador de cachorro“). Dafür müssen dann auch schon mal Einrichtungsgegenstände geeignet platziert werden. Das nachfolgende Video dokumentiert erste beeindruckende Erfolge.



SOMMERZEIT


Vor einer Woche begann hier die Sommerzeit. An diesem Sonntag hat nun in Deutschland die Sommerzeit geendet. Damit verringert sich der Zeitunterschied auf 4 Stunden.


Ich wünsche allen eine schöne letzte Oktoberwoche.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Mittwoch, 14. Oktober 2009

JUGENDLICHE INTUITION


Am vergangenen Donnerstag weckte ich meinen Sohn mit der Aufforderung: „Rate mal, wer den diesjährigen Friedensnobelpreis bekommen hat.“ In den Medien war die Entscheidung einhellig als „sensationell und unerwartet“ beurteilt worden. Mein Sohn Marcus, noch im Halbschlaf, ließ mich nicht lange auf die Antwort warten. Die richtige Antwort.


GRENZERFAHRUNGEN


1979: August. Die Tinte im Führerschein ist noch feucht. Mit dem noch recht gut erhaltenen Opel Kadett des Vaters auf nach Spanien. 4 Jahre nach Francos Tod, 2 Jahre vor dem – Gott sei dank – gescheiterten Putschversuch rechter Militärs. Bei Nacht und Nebel über die Pyrenäen, hinein ins Baskenland. Die zweisprachigen Verkehrsschilder, auf denen der spanische Namen mit schwarzer Farbe übersprüht ist, haben im fahlen Scheinwerferlicht etwas Unheimliches.


1986: Tagesausflüge von Berlin (West) nach Berlin (Ost). Einmal muss ich an der Grenze all meine Taschen leeren. Und siehe da, ich habe 20 DDR-Mark bei mir. So was. Die Ausfuhr von Zahlungsmitteln der Deutschen Demokratischen Republik war ja strengstens verboten. Folglich auch deren Besitz außerhalb der Grenzen der DDR. Eine resolute Grenzsoldatin befragt mich ungefähr eine Stunde lang nach der Herkunft dieses lächerlichen Geldscheins. Meine Auskünfte findet sie offenbar nicht zufriedenstellend („In irgendeiner Kneipe hat mir irgendjemand das Geld geschenkt.“). Sie kontaktiert die nächst höhere Dienststelle. Ihr Gesprächspartner hat jedoch augenscheinlich nicht die geringste Lust, sich von solch einer Lappalie den Sonntag vermiesen zu lassen und plädiert auf Einstellung des Verfahrens. Das Geld wird konfisziert, und ich darf meiner Wege ziehen.


1987: Algeciras, Spanien. Es ist bereits dunkel. Die Fähre nach Tanger, Marokko, legt ab. Afrika ist nur wenige Stunden entfernt. Vielleicht hätte ich doch ein Quartier reservieren sollen. Bei der Ankunft ist es immerhin bereits Mitternacht. Alles fügt sich. Ein freundliches marokkanisches Ehepaar, Gastarbeiter in Spanien, nimmt sich meiner an, begleitet mich zu einer vertrauenswürdigen Pension. Allah ist groß.


1988: Januar. Von Wien nach Budapest. Der eiserne Vorhang ist noch intakt. Es ist kalt. Sehr kalt. Der VW Golf Diesel ist ein Haufen Schrott. Kurz vor Budapest fängt der Motor an zu stottern. Mit letzter Kraft erreiche ich einen Parkplatz neben einem großen Gebäude mit einer mir völlig unverständlichen Aufschrift. Später erfahre ich, dass es sich um den Bahnhof handelt. Es folgen abenteuerliche Tage.


1991: San Diego, Kalifornien. Mit dem Auto südwärts, so weit es geht. Dann zu Fuß über die Grenze nach Mexiko. Der Hinweg war einfach. Auf Rückweg muss ich sehr viele Fragen sehr detailliert beantworten, bevor ich wieder US-amerikanischen Boden betreten darf.


BRASILIEN-PARAGUAY


2009: Bela Vista, Brasilien. Durch einen Fluss namens Apa getrennt von Bella Vista, Paraguay. Grenzen üben seit jeher eine merkwürdige Anziehung auf mich aus.


Der 12. Oktober ist ein nationaler Feiertag in Brasilien, der Tag der Schutzpatronin des Landes („Nossa Senhora Aparecida“). Wir nutzen das verlängerte Wochenende für einen Ausflug nach Bela Vista, ca. 320 km südwestlich von Campo Grande.


Für die Fahrt muss man ca. 4 Stunden veranschlagen. Die Straße ist zwar komplett asphaltiert, aber nur zweispurig. Ein Leckerbissen für Freunde der kontemplativen Fahrweise wie mich.


Eine vierspurige Autobahn wäre hier auch zu viel des Guten. Bisweilen begegnet uns nur alle fünf Kilometer ein Auto. Zur Erinnerung: In dem Bundesstaat Mato Grosso do Sul von der Größe Deutschlands leben ca. 2,5 Millionen Menschen.


Bela Vista ist eine Kleinstadt mit ca. 25.000 Einwohner und genau einer Ampel. Mehr braucht es nicht. Das Leben dort ist eher beschaulich. Die Leute leben von der Landwirtschaft. Und von den „oportunidades“ („opportunities“), die sich aus der unmittelbaren Nähe zu Paraguay ergeben.


Genau gesagt, aus dem Preisgefälle. Paraguay ist ein armes Land, auch in Relation zu Brasilien. So gibt es etwa in Bela Vista (Brasilien) keine einzige Tankstelle, da auf paraguayischer Seite Benzin und Alkohol (Ethanol) etwa um ein Drittel billiger sind. Die Grenze ist, spätestens seit der Etablierung des Mercosul, der Wirtschaftsunion zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, weit offen. Viele Brasilianer besitzen Land in Paraguay. Viele Paraguayer arbeiten in Brasilien.


PARAGUAY


Das (neben Bolivien) einzige Land Südamerikas ohne Zugang zum Meer war nicht immer arm. Bis 1864 war Paraguay einer der wirtschaftlich fortschrittlichsten und mächtigsten Staaten der Region. Sechs Jahre später, nach Ende des sog. Tripel-Allianz-Krieges (Brasilien, Argentinien und Uruguay gegen Paraguay), hatte das Land etwa 50% seines Territoriums und etwa 75% (!) seiner Einwohner verloren. Von diesem Schlag hat das Land sich bis heute nicht erholt. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass es in diesem Konflikt viele Opfer auf allen Seiten gab – 2 Millionen insgesamt – und eine Einteilung der Konfliktparteien in Gut und Böse nur bedingt möglich ist.


Als wäre das nicht genug, musste die geschundene Bevölkerung dann auch noch 35 Jahre Diktatur unter Herrn Stroessner erdulden. Wir erinnern uns: Das war jener Herr, dem mein ehemaliger Landesvater F.J. Strauß einen netten Besuch abstattete.


BELA VISTA


Eine Cousine von Oriana lebt in Bela Vista. Sie ist Paraguayerin, verheiratet mit einem Brasilianer, und stolze Besitzerin einer Fazenda in Paraguay. Dort verbringen wir das Wochenende. Der Weg dorthin führt – von der Grenze aus – über 35 Kilometer ungeteerter Straße. Der Straßenbelag ist die für die Gegend typische rotbraune Erde. In trockenem Zustand – kein Problem. Bei Regen sollte man jedoch nicht – wie wir – mit einem „City Car“ unterwegs sein, sondern lieber mit einem geländegängigen vierradgetriebenem Fahrzeug. In der untergehenden Sonne erreichten wir unser Ziel.


Vermutlich der abgeschiedenste Ort, an dem ich mich je aufgehalten habe. Diese Abgeschiedenheit ermöglicht einen sehr engen Kontakt mit der Natur. So wurde als eine der ersten Maßnahmen eine handtellergroße Spinne („Caranguejeira“) mit behaarten Beinen („Die tut nichts.“) gebeten, doch bitte das Schlafzimmer zu verlassen.


Später durften wir eine ca. 20 cm lange Kröte („sapo“) begrüßen und dabei beobachten, wie sie im Sekundentakt Moskitos und andere Insekten verspeiste. Unser Hund hatte ein derartiges Lebewesen noch nicht gesehen und war entsprechend irritiert. Wild bellend sprang er vor der Kröte hin und her, traute sich jedoch nicht, das Tier zu attackieren. Beeindruckend, mit welch stoischer Ruhe die Kröte dies über sich ergehen ließ.


Am Sonntagvormittag wird gewandert. Im Wald. Das darf man sich jetzt nicht vorstellen wie im Pfälzer Wald. Gekennzeichnete Wege gibt es nicht direkt. Auch keine Hütten mit Verpflegung. Dafür jede Menge Gelegenheiten, sich zu verirren.


In der Zwischenzeit wird das Mittagessen zubereitet. Churrasco. Was sonst. Dieses Mal jedoch nicht über Kohle, sondern über Holz gebraten. Dazu Reis, Salat, gekochte Mandiokwurzeln.


In der folgenden Nacht zeigt die Natur, wer der Herr im Haus ist. Sturm, peitschender Regen, Stromausfall. 100 Millimeter Niederschläge in einer Nacht. Zum Vergleich: Die jährliche Niederschlagsmenge in Deutschland beläuft sich auf 700 Millimeter.


Und da standen wir nun, mit unserem City-Car. Vor uns 35 Kilometer ohne Asphalt, vom Regen aufgeweicht. Trotz niedriger Geschwindigkeit ist da nichts mit kontemplativer Fahrweise.


Wie gut, dass ich seinerzeit, mit ca. 15 Jahren, meiner erste Er-Fahr-ungen auf den Feldwegen rund um den elterlichen Hof machte. Ausgestattet mit diesen unbezahlbaren Erfahrungen konnte ich uns wohlbehalten zurück in die sog. Zivilisation bringen.


FOTOS


Mehr Fotos gibt es hier.


FELIZ ANIVERSÁRIO


Der 12.Oktober ist nicht nur nationaler Feiertag in Brasilien, sondern auch der Geburtstag unseres Sohnes Marcus. 14 ist er, der Kleine. Feliz Aniversário!


Ich wünsche Euch allen eine schöne Woche – mit viel menschlicher Wärme gegen die in Deutschland sinkenden Temperaturen.

Montag, 5. Oktober 2009

Montag, 5. Oktober 2009

BRASILIEN – DIE ZUKUNFT HAT BEGONNEN


„Rio 2016“, das bedeutet mehr als ein Sportereignis in einem tropischen Land. „Rio 2016“ ist ein Meilenstein auf dem Weg Brasiliens von der zweiten in die erste Reihe. Eine Nation erhält die Anerkennung, nach der es jahrzehntelang gedürstet hat.


Im Jahr 2016 wird – nach Prognosen der Weltbank – Brasilien voraussichtlich die fünftgrößte Wirtschaftsnation dieser Welt sein – hinter USA, Japan, China und vermutlich Deutschland. „G7“ ist Geschichte.


In den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts lautete ein beliebter Spruch: „Brasilien ist das Land der Zukunft. Leider weiß niemand, wann diese Zukunft beginnen wird.“ Diese Frage darf nun als beantwortet gelten. (Karl Valentin hätte womöglich ergänzt, dass früher sogar die Zukunft besser war.) Zu dieser Zeit wurden auch Aussagen getroffen wie: „Dieses Jahr ist zwar nicht so gut wie das letzte, aber dafür besser als das nächste.“


Die Wirklichkeit des Durchschnittsbrasilianers in den 80er und Anfang der 90er Jahren war geprägt von bis zu 1000% Inflation pro Jahr, wirtschaftlicher Instabilität, schreiender Armut, schamloser Korruption und internationaler Bedeutungslosigkeit. Und dann auch noch 24 Jahre lang kein Gewinn der Fußballweltmeisterschaft. (Wir erinnern uns: 1970 gewann Brasilien seinen dritten Titel, zum dritten Mal mit Pelé. Danach erst wieder 1994 in den USA.) Natürlich bietet eine solche Umgebung keinen Raum für Zukunftsoptimismus.


Vorbei damit. Das nächste Jahrzehnt wird das Jahrzehnt Brasiliens sein. Davon bin ich inzwischen auch persönlich überzeugt. Präsident Lula ist selbstbewusst wie keiner seiner Vorgänger. Und das aus guten Gründen. Ein Erfolg reiht sich an den nächsten. Hier eine vermutlich unvollständige Aufzählung:


  • ERDÖL: Unter dem Meeresboden vor der Küste Brasiliens wurden erhebliche Erdölvorräte entdeckt. Man darf davon ausgehen, dass das Land in wenigen Jahren ein weltweit bedeutender Exporteur von Energie, Biokraftstoffen und Erdölprodukten sein wird. (Dass das in Bezug auf Klimaschutz keine gute Nachricht ist, ist eine andere Sache – s.u.)
  • DEVISEN: Das frühere Schuldnerland Brasilien ist heute mit über 200 Milliarden Dollar Devisenreserven einer der größeren Gläubiger der USA.
  • KRISE: Ausgerechnet das ehemals chronische Krisenland Brasilien wird die Weltwirtschaftskrise weitgehend unbeschadet überstehen. Viel mehr als ein Jahr Stagnation wird es nicht geben. Zwei der weltweit größten Börsengänge dieses Jahres fanden in Brasilien statt.
  • WOHLSTAND: Die Unterschiede zwischen arm und reich sind nach wie vor extrem groß. Der Abstand der Diskrepanz zu anderen Ländern wird aber geringer. Einerseits dadurch, dass die Wohlstandsschere in den industrialisierten Ländern, auch in Deutschland, immer weiter aufgeht. Andererseits konnten mit einer Reihe von Sozialprogrammen der Regierung Lula ca. 30 Millionen Menschen in Brasilien die Armutszone verlassen.
  • COPA 2014 & RIO 2016: Brasilien wird im nächsten Jahrzehnt gleich zwei Mega-Events ausrichten: Die Fußballweltmeisterschaft 2014 („COPA“) und die Olympischen Spiele 2016. In dieser zeitlichen Konzentration haben das bislang nur Mexiko (1968/70), Deutschland (1972/74) und die USA (1994/96) bewältigt.


In der Pressekonferenz nach der Entscheidung zugunsten von Rio de Janeiro legte Präsident Lula die Befindlichkeit der brasilianischen Seele in sehr deutlicher Weise offen: Brasilien war einst Kolonie. Also Folge davon fühlten sich die Brasilianer stets klein und minderwertig gegenüber den Großen dieser Welt. Daraus resultierte schließlich dieser leidenschaftliche, ja schon verzweifelte Wunsch, diese eine Gelegenheit zu erhalten, der Welt zu zeigen, „dass wir es können“. „Gebt uns eine Gelegenheit, nur diese eine Gelegenheit.“


FALA PORTUGUÊS?


Fangt also schon mal an, portugiesisch zu lernen. Die Brasilianer sind nämlich nicht gerade für ihre ausgeprägte Fremdsprachenkompetenz bekannt – um es mal vorsichtig auszudrücken. Aber das ist ja in allen großen Ländern so, wo Landes- und Sprachgrenzen nicht zur Alltagserfahrung gehören. Vielleicht ist es auch eine romanische Eigenheit. Jeder, der mal versucht hat, in Frankreich, Italien, Spanien oder Portugal auf Englisch eine Auskunft zu erhalten, weiß, was ich meine.


Im Vorfeld der beiden Großereignisse „COPA 2014“ und „RIO 2016“ will die Regierung nun massiv das Erlernen von Fremdsprachen, insbesondere Englisch und Spanisch, fördern. Schau’ma’mal.


Kleiner Tipp: Falls jemand meiner Empfehlung folgen sollte, dann bitte „Brasilianisches Portugiesisch“ lernen. Die Unterschiede zwischen brasilianischem und portugiesischem Portugiesisch – Aussprache, Vokabular und auch Grammatik – sind nämlich beträchtlich.


UND DAS KLIMA?


Jetzt erlaube ich mir mal, „typisch deutsch“ zu sein. Im Augenblick des Triumphs hebe ich den mahnenden Zeigefinger: „Ja, aber…!!! Was ist mit dem Klimaschutz?“ In der ganzen Klimadiskussion spielt Brasilien eine ambivalente Rolle.


Auf der Positivseite steht eine der nachhaltigsten Energieproduktionen weltweit. Das muss man sich mal ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen: Brasilien verfügt über eine der nachhaltigsten Energieproduktionen weltweit. Warum?


Grund 1: Die Biotreibstoffe, allen voran Alkohol aus Zuckerrohr, welcher landesweit flächendeckend verfügbar ist und naturgemäß eine wesentlich bessere CO2-Bilanz aufweist als Benzin.


Grund 2: Die zahlreichen Wasserkraftwerke dieses Landes, welche mehr als 80% des Strombedarfs decken. Reinster Ökostrom also.


Doch es gibt auch eine Negativseite. Insgesamt produziert Brasilien jährlich ca. 1,4 Mrd. Tonnen CO2. Damit ist Brasilien der fünftgrößte Treibhausgasproduzent weltweit – hinter China, USA, Russland und Indien. Bei 190 Millionen Einwohnern macht das ca. 7,5 Tonnen pro Kopf und Jahr. Zum Vergleich: Deutschland kommt auf ca. 10 Tonnen pro Kopf und Jahr.


Wie kann es sein, dass der Durchschnittsbrasilianer, der nicht heizen muss, der viel weniger Auto fährt (weil er in vielen Fällen sich keines leisten kann), und wenn dann mit Biokraftstoffen, fast genau so viel CO2 produziert wie der Durchschnittsdeutsche?


Die Antwort ist so einfach wie deprimierend: 75% aller CO2-Emissionen in Brasilien entstehen durch die Brandrodungen in Amazonien. Ohne den brennenden Regenwald wäre Brasilien ein weltweites Vorbild in Sachen Klimaschutz & Nachhaltigkeit.


Der Regenwald Amazoniens bietet aber auch eine immense Chance. Gelingt es Brasilien, die Brandrodungen zu bremsen oder gar zu stoppen, kann das Land mehr gegen die Klimaerwärmung tun als die meisten anderen Staaten dieses Planeten. Einen Plan der Regierung dazu gibt es seit Ende letzten Jahres: Bis 2017 soll die „Entwaldungsrate“ schrittweise um insgesamt 72% reduziert werden.


Zum Ausmaß der Waldzerstörung gibt es unterschiedliche Angaben. Die Regierung geht von 19.000 km2 pro Jahr aus. Greenpeace spricht von 30.000 km2 pro Jahr, das entspricht etwa der Größe Belgiens. Ab 2017 sollen dann nach Wunsch der Regierung jährlich nur noch 5.000 km2 abgeholzt werden. Weniger schlimm ist auch besser.Die gesamte Menschheit muss hoffen, dass dieser Plan gelingen möge.

SÃO FRANCISCO


„São Francisco“ ist der Name unseres Stadtteils („bairro“) und auch unserer Kirchengemeinde („paróquia“). Damit halt es folgende Bewandtnis.


1938 machten sich eine Handvoll Franziskanermönche aus der „Provinz“ Thüringen-Fulda auf den Weg nach Brasilien, um dort missionarisch zu wirken. Zahlreiche weitere Ordensbrüder folgten wenige Jahre später auf der Flucht vor Gestapo und Nazi-Terror. Im Jahre 1950 schließlich wurde mit dem Bau der Kirche („igreja“) zu Ehren des Franz von Assisi begonnen (s. Foto).


Der 3. Oktober ist nicht nur der Tag der deutschen Einheit, sondern auch der Gedenktag des hl. Franziskus. Letzteres war Anlass zu einem fröhlichen Gemeindefest mit – selbstverständlich! – „Churrasco“ vom Feinsten. Dabei durften wir „Frei Miguel“ kennen lernen. („Frei“ ist das hiesige Wort für Ordensbruder.) Frei Miguel hieß früher mal Michael, ist Jahrgang 1934 und kommt nicht etwa aus Osnabrück, Gelsenkirchen, Kassel oder Braunschweig. Nein, er ist Pfälzer, gebürtiger Speyerer und ehemaliger Schüler des Kaiserdom-Gymnasiums. So klein ist die Welt.

Frei Miguel lebt und arbeitet seit mehr als 45 Jahren als Seelsorger in Brasilien. Dem unverkennbaren Pfälzer Dialekt hat das keinen Abbruch getan.


Ich wünsche allen eine schöne Woche mit hoffentlich viel goldenem Oktoberwetter.