Besuch aus Deutschland. Endlich. Nach unserer Rückkehr nach Deutschland wird man uns ja fragen, ob wir Besuch von dort bekommen. Nun also können wir ohne zu zögern antworten mit einem „Klar doch! Logisch!“. Unsere Freunde haben den weiten Weg auf sich genommen. Zwölf Stunden von Frankfurt nach São Paulo, weitere anderthalb bis Campo Grande.
Wir wissen Besuch der beiden ganz besonders zu schätzen. War doch wenige Tage vor ihrer Abreise die isländische Vulkanwolke das alles beherrschende Thema. In Deutschland. Eine Woche später kräht kein Hahn mehr danach. Schall und Rauch.
Vor ihrer Abreise fragen sie uns, was sie uns denn aus Deutschland mitbringen sollen? Tja, äh, hmm. Ja, eigentlich – danke für das Angebot. Fehlt uns wirklich nichts aus Deutschland? Vor sechs Monaten wäre die hiesige Knoblauchpresse, welche den Knoblauch nur sehr unzureichend zerkleinert, ein Thema gewesen. Inzwischen: Lappalie. Ein Erdinger Weißbier vielleicht! Geht aber nicht. Im Handgepäck nicht erlaubt, im Koffer ein explosives Risiko. Danke, wirklich sehr nett, wir haben hier wirklich alles.
Natürlich wollen wir unseren Freunden das Beste zeigen, was die Gegend hier zu bieten hat. Wir nutzen die Gelegenheit für einen Besuch in Bonito. Das Wort „bonito“ bedeutet „schön“. Und so ist die Gegend um diese Stadt. Ein grandioses Naturparadies, gesegnet mit zahlreichen fischreichen Flüssen voller kristallklaren Wassers, verschwenderisch ausgestattet mit unzähligen kleineren und größeren Wasserfällen.
Dieses touristische Ziel ist sehr gut erschlossen – in ökologischer und nachhaltiger Weise, wie stets betont wird – und in ganz Brasilien bekannt. In der Hauptreisezeit, also im Dezember und Januar, müssen auch die Brasilianer rechtzeitig im Voraus reservieren, auch wenn dies ihrer Spontaneität eigentlich zuwider läuft. Nicht nur Hotel oder Pousada wollen gebucht werden, sondern auch die gewünschten „passeios“, also die Ausflüge und Aktivitäten, die man dort unternehmen möchte. Und davon gibt es zahlreiche. Wandern, Baden, Schwimmen, Reiten, Höhlenbesuche mit oder ohne Abseilen etc.
Die Teilnehmerzahl pro Tag pro Aktivität ist begrenzt. Ergebnis einer Vereinbarung zwischen den lokalen Anbietern, der Stadtverwaltung und der Umweltbehörde. Der Tourist und die Touristin werden umfassend mit Kartenmaterial und Infomaterial ausgestattet, so dass er oder sie weiß, was ihn oder sie erwartet. Eine Handvoll Agenturen („agências“) wickeln die Buchung ab. Sie sorgen dafür, dass ihre Kunden zur richtigen Zeit mit der richtigen Ausstattung am richtigen Ort sind.
Noch haben wir jedoch 300 Kilometer vor uns. Der Kalender zeigt unmissverständlich Herbst an. Dieser Umstand hat zur Folge, dass es um 6 Uhr abends bereits dunkel ist. Wirklich dunkel. Stockdunkel. Rabenschwarz. Um diese Zeit will man dann gerne schon angekommen sein. Wir drängen zum zügigen Aufbruch, als unsere Kinder von der Schule zurückgekehrt sind. Schon halb zwei. Das wird knapp.
Für die dreihundert Kilometer müssen wir viereinhalb Stunden veranschlagen. 75 km/h im Durchschnitt plus eine halbe Stunde Pause in Sidrolândia. Dort gibt es nämlich ein besonders gutes „Pão de Queijo“. Das muss man einfach mitnehmen.
„Pão de Queijo“ heißt wörtlich „Käsebrot“. Diese wörtliche Übersetzung ist aber in keiner Weise geeignet, die unwiderstehliche Anziehungskraft dieser brasilianischen Leckerei auch nur annähernd zu beschreiben. Ein gutes „Pão de Queijo“ kann ein Stimmungstief mit einem einzigen Bissen vergessen machen. Das Wohlbefinden, welches sich nach dessen Verzehr einstellt, ist einzigartig. Das „Pão de Queijo“ kommt ursprünglich aus Minas Gerais, ist aber heutzutage in ganz Brasilien bekannt und beliebt. Hier in Mato Grosso do Sul, Grenzregion zu Paraguay, ist die Variante namens „Chipa“ weit verbreitet. Der Unterschied liegt weniger im Geschmack als mehr in der Form. Während „Pão de Queijo“ in rundlicher Form („Käsebällchen“) zubereitet wird, kommt die „Chipa“ in Gestalt eines Hufeisens daher.
Also Halt in Sidrolândia. Wir versorgen uns mit den kulinarischen Köstlichkeiten. Zum Mitnehmen. Weiter geht’s. Die Sonne senkt sich schnell. Das Abendlicht hat einen ganz besonderen Reiz. Die Landschaft strahlt plötzlich ganz intensiv. Wir aber sind erfahren und kennen diesen Trick. In Wirklichkeit heißt das, dass es ruckzuck dunkel wird. Erfahrung zahlt sich auch. Wir geben Gas. Das heißt Alkohol. Die umweltfreundliche Alternative zu Benzin.
Wir schaffen es nicht ganz. Die letzte halbe Stunde des Weges tappen bzw. fahren wir im Dunkeln. Vergeben und vergessen, als wir unsere Pousada erreichen. Ein großzügiges Ambiente mit einer schnellen Erholungsrate. Schwimmbad, Fischteich, Tennisplätze, Fitnessgeräte. „Recanto dos Pássaros“, „Eine Rückzugsecke für Vögel“, so der Name unserer Pousada.
Unsere Gastgeber heißen Oshiro und Shizuru. Japanische Einwanderer gibt es ja viele in Brasilien. Die Besitzer unserer Pousada sprechen auch noch japanisch. Er, Oshiro, wuchs in Brasilien auf, ging dann zurück nach Japan, heiratete seine Frau Shizuru und überzeugte sie davon, die Enge Japans gegen die Weite Brasiliens einzutauschen. Sie folgte ihm. Vor gut zehn Jahren eröffneten sie ihre Pousada in Bonito. Und sind immer noch dort.
Sie empfangen uns mit der möglicherweise weltweit einzigartigen Herzlichkeit, die der Mischung aus brasilianischer und japanischer Mentalität entspringt.
Die Pousada liegt abseits der Hauptstraße, verfügt deshalb aber über ein wesentlich größeres Areal. Größere Zimmer, größerer Parkplatz, ein Fischteich, zwei Tennisplätze. Das passt. Wir bleiben und fühlen uns wohl.
Der Ruf nach Abendessen wird laut. Wie wohl überall auf der Welt werben die Restaurant in der der Hauptstraße besonders intensiv und farbenträchtig für ihre Angebote. Mich dagegen zieht es in die weniger beleuchteten Seitenstraßen. Bei unserem ersten Besuch, Ende 2008, gab es da ein familiäres Lokal, in dem wir zweimal sehr gut gespeist haben. Ich will zumindest wissen, ob diese Art von Qualität Bestand hat.
Sie hat. Das Restaurant „Bom Tempero“ („Gutes Gewürz“) existiert nach wie vor. Eine Speisekarte gibt es nicht. Wozu auch? Es gibt ja nichts auszuwählen. Der Hausherr bietet ein Essen an. Entweder wir nehmen das – oder eben nicht. Er gibt bereitwillig Auskunft über das Angebot an diesem Abend. Wir bleiben. Das Essen, bestehend aus Reis, Bohnen, gebratenem Fleisch, Nudeln und Salat, lässt keine Wünsche offen.
Unser Gastgeber offenbart auf Nachfrage, dass er früher als Ingenieur arbeitete und Brücken baute. Irgendwann jedoch folgte er seiner Frau in dem Wunsch, ein eigenes Restaurant zu eröffnen. „O amor é lindo.“, sagen die Brasilianer dazu. „Die Liebe ist wunderbar.“
Das Kreuz des Südens ist an diesem Abend besonders gut auszumachen. Keine Wolke trübt den Sternenhimmel. Das sieht gut aus, sogar sehr gut für unser Vorhaben am nächsten Tag.
Frühstück um sieben Uhr. Das Frühstücksbuffet breitet zahlreiche Köstlichkeiten vor unseren Augen und Geschmacksnerven aus. Erst Obst und verschiedene frisch gepresste Säfte, dann süße Teilchen, gefolgt von Rührei. Oder doch in umgekehrter Reihenfolge? Entscheidungen, mit denen jeder allein zurückbleibt. Im Ergebnis sind wir alle, unabhängig von der Verzehrreihenfolge, gut genährt und bester Laune für die Unternehmung des Tages.
„Estância Mimosa“ lautet unser Ziel. Es handelt sich um ein etwa 10 km2 großes Anwesen, etwa 25 km von der Stadt Bonito entfernt. Da die Straße nicht asphaltiert ist, müssen wir mit einer gute halbe Stunde Fahrt rechnen. Vorher müssen wir in einer „agência“ noch die Tickets kaufen. Um 9 Uhr werden wir am Zielort erwartet.
Das schaffen wir. Wir werden gewohnt freundlich empfangen und zuerst einmal zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Ein zweites Frühstück. Kann ja nicht schaden. Ein älteres Ehepaar aus Porto Alegre, der südlichsten Großstadt Brasiliens, gesellt sich zu uns. Siehe da, er spricht deutsch. War mal tätig für Siemens in Karlsruhe. Vor vielen Jahren. 1958.
Unser Guide („guia“) namens Wagner stimmt uns ein auf das, was kommt. Eine Wanderung durch den Wald, immer in der Nähe des „Rio Mimoso“. Dabei sollen wir insgesamt acht Wasserfälle zu Gesicht bekommen. Fünf davon mit Badevergnügen, drei nur zum Anschauen („contemplação“). Mit anderen Worten: Gleich mal Badekleidung überstreifen, dazu – wenig kleidsam, aber außerordentlich nützlich – Schuhe, wie auch der Taucher sie verwendet. Ein Zugeständnis an den felsigen und zum Teil scharfkantigen Untergrund. Es kann losgehen.
Wir haben großes Glück mit dem Wetter. Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein – bestes Herbstwetter bei geschätzten 30 Grad. Der erste Wasserfall lässt nicht lange auf sich warten. Einer „zum Anfassen“. Worauf warten wir noch. Gut, das Wasser ist frisch. Geschätzte 23 Grad. Der Genuss ist jedoch ungetrübt. Etwa 25 Meter sind schwimmend zu überwinden bis zum Wasserfall („cachoeira“).
Ein köstlicher Genuss. Das frische, klare Wasser ist eine Wohltat. Der Wasserfall ist schnell erreicht. Geplagte Rücken werden auf ganz natürliche und sanfte Weise vom herabstürzenden Wasser massiert und revitalisiert. Hinter dem Wasservorhang versteckt sich eine kleine Grotte. Die Tauschschuhe erweisen sich als außerordentlich hilfreich auf dem felsigen Untergrund. So kann es weitergehen.
Und es geht so weiter. Ein Wasserfall schöner als der andere – von berauschender Schönheit im wahrsten Sinne des Wortes. An einer Stelle können sich Wagemutige aus sechs Metern Höhe in die Tiefe stürzen. Hinreichende Wassertiefe garantiert.
Von Wagner erfahren wir, dass das Anwesen vor etwa zehn Jahren den Besitzer wechselte. Der Vorbesitzer versuchte, das vielfältige Holz der Bäume zu Geld zu machen. Der aktuelle Eigentümer erkannte dagegen die Chancen des Tourismus. Der Erfolg stellte sich ein. Der Ertrag ist um ein Vielfaches größer und fließt noch dazu nachhaltig. Touristen wachsen schneller nach als Bäume.
Auch hier ist die Besucherzahl begrenzt. Täglich werden maximal 12 Gruppen mit höchstens 12 Teilnehmern empfangen. Wie schön, dass die Vernunft über den Wunsch nach schnellem Profit gestellt wird.
Nach gut drei Stunden Wander- und Badevergnügen sind alle zufrieden und bereit für ein reichhaltiges Mittagessen („almoço“). Im Preis inbegriffen. Ein überbordendes Buffet mit allem, was die Region zu bieten hat, erwartet uns bereits. Und das ist ganz schön viel. Fleisch von Rind, Schwein, Lamm, Geflügel, dazu Reis und Bohnen, Salate und etwa ein Dutzend verschiedene Desserts. Unsere Gastgeber meinen es sehr gut mit uns. Am Ende der Mahlzeit erfasst mich diese leichte Melancholie, resultierend aus der bitteren Erkenntnis, dass ich leider nicht noch mehr essen kann.
Nach solch einem Erlebnis für alle Sinne braucht man Ruhe, um all diese vielen Eindrücke auf sich wirken lassen zu können. Die Hängematte ist dafür der ideale Ort. Auch wollen Kräfte gesammelt werden für das Vorhaben am Abend, das „Projeto Jibóia“.
Henrique kommt ursprünglich aus São Paulo, tingelte eine Zeitlang durch die Welt, lebte u.a. in den USA, in Deutschland und Australien. In Berlin verdingte er sich als Unterhalter in S- und U-Bahnen, in Australien entdeckte er seine Passion: Schlangen. Seine Mission: Den Menschen ihre irrationale Angst vor den Schlangen zu nehmen. Während in der Mythologie der Indios die Schlange vielfach als Gottheit verehrt wird, symbolisiert sie in der christlichen alles Böse.
„Jibóia“ ist der brasilianische Name für die Boa Constrictor, auch Königsschlange genannt, eine Würgeschlange, welche in weiten Teilen Lateinamerikas anzutreffen ist. Henrique bietet seinen Besuchern die Möglichkeit, diese elegante Tier aus nächster Nähe kennen zu lernen. Er legt ihnen dar, dass Menschen in dessen Speisekarte keinen Platz haben. Lässig legt er sich und seinen Gästen eine anderthalb Meter lange Boa um den Hals. Das Tier lässt dies mit sich geschehen, macht einen gelangweilten Eindruck.
Dies ändert sich schlagartig, als es zur Fütterung kommt. Das Opfer, eine Maus, wird blitzschnell erwürgt. Der Druck ist dabei wohl dosiert. Die Knochen des Opfers sollen ganz bleiben. Zersplitterte Knochen können der Schlange innere Verletzungen verursachen. Henrique hat noch viel zu tun, werden doch immer noch viele Schlangen aus Angst getötet. Wir wünschen ihm weiterhin viel Erfolg mit seinem Projekt.
Die Liste der möglichen Attraktionen in Bonito ist lang. Darunter sind auch spektakuläre Aktivitäten, wie das Abseilen in einen gut 70 Meter tief gelegenen See in einer Höhle. Adrenalin garantiert. Ein anderes Mal vielleicht.
Wir entscheiden uns für einen Besuch des „Balneário Municipal Rio Formoso“, des „Städtischen Bades“ am Rio Formoso. Hier gibt es keine Schwimmbecken. Der Badegast stürzt sich vielmehr in den Rio Formoso und lässt sich, umgeben von zahllosen Fischen, im kristallklaren Wasser treiben. Gegen eine geringe Gebühr kann man sich eine Schwimmweste ausleihen und mit deren Hilfe die erforderliche körperliche Anstrengung auf ein Minimum reduzieren. Ein unspektakuläres, aber herrliches Vergnügen.
Unser Besuch in Bonito geht zu Ende. Ein herrliches Fleckchen Erde. Wir kommen wieder. Ganz bestimmt. Irgendwann.
KÄLTEREKORD
Konnten wir in Bonito noch strahlenden Sonnenschein und Temperaturen um die 30 Grad genießen, so hat sich eine gute Woche später das Bild drastisch gewandelt. Kaum hatte unser Besuch die Rückreise angetreten, ergriff eine Kaltfront Besitz von uns. Das war so nicht vorgesehen. Brasilien hat gefälligst sonnig und warm zu sein. Das ganze Jahr über bitteschön. Von wegen. Heute Morgen hält Campo Grande den innerbrasilianischen Minusrekord mit 8 Grad Celsius. Tagsüber sollen es gerade mal 16 Grad werden. Zum Glück hält dieses kühle Wetter nicht lange an. In wenigen Tagen soll mit 28 Grad wieder tropische Normalität einkehren.
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