Brasilien gilt gemeinhin als das größte katholische Land der Erde. Noch vor dreißig Jahren waren die Nicht-Katholiken eine verschwindend kleine Minderheit. Innerhalb von nur einer Generation hat sich dieses aus Sicht des Vatikans tadellose Bild dramatisch gewandelt.
Laut einer Untersuchung vom März 2010 verstehen sich gerade noch einma 61% der Brasilianer als katholisch. Tendenz fallend. An der Börse würde man sagen, dass der Abwärtstrend intakt ist. Bei einer Einwohnerzahl von gut 190 Millionen ist Brasilien damit, vor Mexiko, zwar immer noch das größte katholische Land. Doch bei dieser Entwicklung ist es nur eine Frage der Zeit, wann dieses Prädikat verloren geht.
Genaue Zahlen zur Religionszugehörigkeit sind schwer zu ermitteln, da Brasilien, wie die große Mehrzahl aller Länder weltweit, keine Kirchensteuer kennt. Dies hat zur Folge, dass die Abwanderung aus der katholischen Kirche sich völlig geräuschlos vollzieht. Ein formelles Austreten aus der Kirche wie in Deutschland ist nicht erforderlich. Wie in Deutschland, so nimmt auch hierzulande nur eine kleine Minderheit von geschätzten 5% aktiv am Leben der Gemeinde teil.
Finanzielle Gründe sind also nicht dafür maßgeblich, dass die Brasilianer mehr und mehr Rom den Rücken kehren. Wenn es nicht das Geld ist, was ist es dann?
Die Hauptursache ist wohl, ähnlich wie Deuschland, in der zunehmenden Entfremdung der katholischen Kirche von der Lebenswirklichkeit zu suchen. Wer schert sich denn wirklich um die katholische Sexuallehre? Wen kümmert es, was alleinstehende alte Männer in Frauenkleidern zu Ehe & Familie zu sagen haben? Kirche findet statt bei der Taufe, bei der Hochzeit und bei der Beerdigung. Das war´s dann aber auch schon. Feierabend.
Wenn diese Umstände noch nicht reichen, den schwindenden Einfluss der heiligen römisch-katholischen Kirche in Brasilien zu erklären, dann tun die Nachrichten über sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendliche durch Priester in Deutschland, Irland, den USA, aber auch in Brasilien ein Übriges.
Ja, auch Brasilien ist von solchen Verbrechen leider nicht ausgenommen. Landesweit bekannt wurde der Fall eines Priesters, der 2001 und 2002 Kinder im Alter von 13 und 5 (!) Jahren missbrauchte. 2005 kam es zum Prozess. Eine Richterin schickte ihn für knapp 15 Jahren hinter Gitter. Das ist doch mal ein Wort.
Ein Drama, welches den Exodus aus der katholischen Kirche sicherlich noch zusätzlich beschleunigt hat, ereignete sich Anfang 2009 in der Gegend von Recife, im Nordosten Brasiliens. Dort wurde ein 9-jähriges Mädchen von ihrem Stiefvater vergewaltigt. Das kleine Mädchen wurde schwanger. Die behandelnden Ärzte sahen die Schwangerschaft für dieses Kind als lebensbedrohliches Risiko an und nahmen – Gott sei Dank – eine Abtreibung vor. Daraufhin wurden die Ärzte sowie die Mutter des Mädchens – und nicht etwa der Stiefvater – vom Herrn Erzbischof José Cardoso Sobrinho exkommuniziert. Dessen wörtliche Begründung: Abtreibung ist eine schlimmere Sünde als Vergewaltigung.
Papst Benedikt XVI. trägt seinen Teil zum Niedergang bei, indem er Südamerika weitgehend ignoriert. So muss es nicht weiter verwundern, dass die katholische Kirche in Brasilien den Rückwärtsgang eingeschlagen hat. Die Ausnahme, welche die Regel bestätigt, heißt Marcelo Rossi, seines Zeichens ein charismatischer Priester in São Paulo, dessen Gottesdienste von mehreren zehntausend Menschen besucht werden. Doch Marcelo Rossi ist für die meisten Brasilianer weit weg.
Und so hat sich nach der oben zitierten Untersuchung bereits jeder vierte in Brasilien einer der vielen evangelisch Kirchen angeschlossen.
Im brasilianischen Sprachgebrauch verwendet man den Ausdruck „igrejas evangélicas“, also „evangelische Kirchen“, während man im Deutschen zwischen „evangelisch“ und „evangelikal“ unterscheidet. Evangelische Kirchen umfassen jene Religionsgemeinschaften, welche sich in der Tradition der Reformation sehen. Evangelikale Kirchen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Bibeltreuheit aus. Diese Charakterisierung lässt ganz offensichtlich Überlappungen zu. So gehören in Deutschland etwa verschiedene evangelikale Kirchen den evangelischen Landeskirchen an.
In Brasilien werden die „igrejas evangélicas“ von offizieller Seite eingeteilt in solche, welche missionieren („igrejas de missão“) und jene, welche in der Pfingstbewegung ihren Urpsrung haben. Die erste Gruppe umfasst die eher traditionellen Protestanten, also Lutheraner, Presbyterianer, Methodisten und Batisten.
In der zweiten und weitaus größeren Gruppe konzentrieren sich die Gläubigen auf zwei Schwergewichte: Die „Assembleia de Deus“, die „Versammlung Gottes“ sowie die „Igreja Universal do Reino de Deus“, die „Universelle Kirche vom Reich Gottes“. Daneben gibt es eine unübersehbare Zahl von kleineren Kirchen, die oft nur an einem einzigen Ort aktiv sind.
Die größte Sichtbarkeit in Campo Grande hat – mit über 50 „Zweigstellen“ – zweifellos die „Igreja Universal do Reino de Deus“, die „Universelle Kirche des Reichs Gottes“. Der größte Versammlungsort, ein Tempel von kolossalen Ausmaßen in zentraler Lage, bietet etwa 4.000 Menschen bequem Platz.
Diese Kirche, mit ihrem Gründer und selbst ernannten Bischoff Edir Macedo an der Spitze, ist in den letzten Jahren mehrfach in die Kritik geraten wegen angeblich zweifelhafter Praktiken im Umgang mit den Gläubigen und deren finanziellen Mitteln. In einem heimlich aufgenommenem und bei YouTube veröffentlichtem Video erklärt Macedo seinen Mitarbeitern, wie sie auch in Zeiten der Krise die Spendenfreudigkeit der Gläubigen aufrechterhalten können.
Die von der katholischen Kirche im Mittelalter praktizierte Methode, mit Hölle und ewiger Verdammnis zu drohen, wenn man nicht – durch Zahlung einer entsprechenden Gebühr – den Ablass seiner Sünden erkauft, greift in Brasilien nicht. Brasilianer sind durch auf das Jenseits gerichtete Drohungen nicht zu motivieren. Vielmehr geht die „Story“ dieser Kirche ungefähr so: „Widme Dein Leben der Kirche, spende fleißig und reichlich, und Dein Leben wird sich zum Besseren wenden. Wenn Du also Dich weigern solltest, mit finanziellen Beiträgen das große Werk der Kirche zu unterstützen, so wird Gott einen anderen auserwählen, um zu helfen. Und Du bist raus. Wenn Dein Leben dadurch den Bach runter geht – Du hast es nicht anders gewollt.“
In diesem Video kommt ein ehemaliger Vertrauter des Kirchengründers Macedo zu Wort, welcher darlegt, dass es mittlerweile einzig und allein darum gehen würde, den Gläubigen möglichst viel Geld abzunehmen. Die eigene Kirche als lukrative Geschäftsidee.
In kleinerem Maßstab findet man nahezu an jeder Ecke eine lokale, unabhängige evangelikale Kirche, die dem jeweiligen Pastor dank der Spenden der Gläubigen sein Auskommen sichert.
Die älteste und mit über 8 Millionen zugleich mitgliederstärkste jener Kirchen ist die „Assembleia de Deus“, der brasilianische Ableger der US-amerikanischen „Assembly of God“. Im nächsten Jahr wird es 100 Jahre her sein, dass die ersten US-amerikanischen Missionare auf brasilianischem Boden ihre Gottesversammlungen errichteten. Auch dieser Kirche wird vorgehalten, dass es ihr weniger um das Seelenheil als mehr um den Inhalt des Portmonnaies der Gläubigen gehe, genährt durch Berichte über beachtlichen Reichtum der geistlichen Führer.
All diese kritische Berichterstattung tut dem Erfolg dieser Kirche jedoch keinen Abbruch. Das Erfolgsgeheimnis scheint nämlich darin zu bestehen, dass die Führer der evangelikalen Kirchen erkannt haben, was die Menschen Botschaften hören wollen: Botschaften, welche ihnen helfen, an sich selbst zu glauben. Folgerichtig wird ganz stark mit positivem Denken gearbeitet. „Du kannst das. Du schaffst das. Gott ist mit Dir.“
Nun mal ehrlich: Wenn ich die Wahl habe zwischen „Wenn Du sündigst, wirst Du in der Hölle schmoren!“ und „Glaub an Dich, weil Gott an Dich glaubt! Du kannst Großes vollbringen, weil Gott Großes mit Dir vorhat.“ – wie werde ich mich wohl entscheiden? Und wenn es in meinem Leben dadurch voran geht, dann ist mir das doch durchaus einen kleinen Unkostenbeitrag wert.
Die „Igreja Universal“ mit ihren brasilienweit gut 2 Millionen Mitgliedern nimmt, laut dem brasilianischen Finanzministerium jährlich etwa 1,4 Milliarden Reais, aktuell etwa 630 Millionen Euro ein. Das ist zwar einerseits viel Geld. Andererseits jedoch, pro Gläubigem und Jahr aber Macht mit 300 Euro dann doch eher nur ein Trinkgeld, verglichen mit der deutschen Kirchensteuer. Zur Erinnerung: 8% (Baden-Württemberg und Bayern) bzw. 9% (restliche Bundesländer) der Einkommensteuer.
Doch dann ist da jenes Unbehagen, welches verursacht wird durch Berichte wie diesen: In der vergangenen Woche kettete sich eine verzweifelte Mutter sieben Stunden lang an den Zaun der „Catedral da Fé“, der „Kathedrale des Glaubens“, des zentralen Tempels der „Igreja Universal“ hier in Campo Grande, um gegen die Methoden dieser Kirche zu protestieren. Ihr 17-jähriger Sohn lebe seit zwei Jahren nur noch für die Kirche. Seine Arbeit habe er aufgegeben, um von morgens bis abends Geld für die Kirche zu sammeln.
Dies darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass evangelikale Kirchen auch viel Gutes bewirken, in sozialen Projekten mit bedürftigen Kindern und Jugendlichen oder auch mit Índios. Wie so oft im Leben ist auch hier das Bild nicht einfach schwarz oder weiß, sondern reich an Facetten.
Und dann wären da noch die Spiritisten („Espíritas“), also jene, welche Geister beschwören, damit diese sich mit Hilfe eines Mediums mitteilen. Das hat ja erst mal nichts mit Religion zu tun. Die brasilianischen Spiritisten folgen jedoch hauptächlich der Lehre des Franzosen Allan Kardec, eines Schülers des Pädagogen Pestalozzi, welcher im neunzehnten Jahrhundert der spiritistischen Lehre ein theoretisches Fundament gab. In seinem Werk „Buch der Geister“ beantwortet er mehr als eintausend Fragen rund um Geistwesen. Mehr als zwei Millionen Brasilianer sind Anhänger dieser Lehre, des „Kardecianismus“ („kardecismo“). In zahlreichen brasilianischen Städten findet man nach ihm benannte Straßen („Rua Allan Kardec“).
Kardec hat die christliche Ethik, insbesondere auch die Zehn Gebote in seine spiritistische Lehre integriert. Daher verstehen sich die brasilianischen Spiritisten auch als Christen, nur halt jenseits der katholischen und evangelischen Konfessionen. Auch hier in Campo Grande findet man zahlreiche „Centros Espírita“. Dort werden unter anderem spiritistische „Operationen“ vorgenommen, um körperliche Gebrechen zu behandeln. Es fließt dabei keinerlei Blut. Stattdessen werden Geister angerufen, die helfen sollen, die spiritistische Seite des Patienten wieder ins Lot zu bringen, auf dass diese sich heilend auswirke auf die körperliche Verfassung. Hier geht es nun definitv nicht ums Geld. Für derartige Dienstleistungen wird keinerlei Honorar erhoben, lediglich freiwillige Spenden werden akzeptiert.
Wer bei diesem reichhaltigen Glaubensangebot noch immer nicht das Richtige gefunden hat, für den stehen noch ausgewiesene Wunderheiler bereit, wie etwas der selbst ernannte „Apostel“ Valdemiro Santiago, Gründer und Chef der „Weltkirche der Macht Gottes“ („Igreja Mundial do Poder de Deus“). Etwa zwanzig Jahre lang war er für die oben erwähnte „Igreja Universal“ tätig, bevor er sich 1998 glaubenstechnisch selbstständig machte. Sein Kirchenunternehmen verfügt inzwischen über mehr als 1.000 Filialen, sog. Tempel, im ganzen Land.
Für diese Woche hat er hier in einen großen Park am Stadtrand zu einer “Großen Zusammenkunft des Glaubens und der Wunder“ eingeladen. Auf dem Einladungsplakat wird auch gleich der „Beweis“ mit geliefert. Ein Gläubiger hält einen Zettel hoch und verkündet, dass hier in unserem Bundesstaat ein Blinder nun wieder sehen kann. Ein Wunder also. Mit der Rechtschreibung hapert es zwar noch ein bisschen, aber das wird sicher auch noch.
Und die Moral von der Geschicht´? Auch in Brasilien ist es nicht leicht, den richtigen Weg ins Himmelreich zu finden. Ach Gott.