Montag, 31. Mai 2010

Montag, 31. Mai 2010

UM GOTTES WILLEN

Brasilien gilt gemeinhin als das größte katholische Land der Erde. Noch vor dreißig Jahren waren die Nicht-Katholiken eine verschwindend kleine Minderheit. Innerhalb von nur einer Generation hat sich dieses aus Sicht des Vatikans tadellose Bild dramatisch gewandelt.


Laut einer Untersuchung vom März 2010 verstehen sich gerade noch einma 61% der Brasilianer als katholisch. Tendenz fallend. An der Börse würde man sagen, dass der Abwärtstrend intakt ist. Bei einer Einwohnerzahl von gut 190 Millionen ist Brasilien damit, vor Mexiko, zwar immer noch das größte katholische Land. Doch bei dieser Entwicklung ist es nur eine Frage der Zeit, wann dieses Prädikat verloren geht.


Genaue Zahlen zur Religionszugehörigkeit sind schwer zu ermitteln, da Brasilien, wie die große Mehrzahl aller Länder weltweit, keine Kirchensteuer kennt. Dies hat zur Folge, dass die Abwanderung aus der katholischen Kirche sich völlig geräuschlos vollzieht. Ein formelles Austreten aus der Kirche wie in Deutschland ist nicht erforderlich. Wie in Deutschland, so nimmt auch hierzulande nur eine kleine Minderheit von geschätzten 5% aktiv am Leben der Gemeinde teil.


Finanzielle Gründe sind also nicht dafür maßgeblich, dass die Brasilianer mehr und mehr Rom den Rücken kehren. Wenn es nicht das Geld ist, was ist es dann?


Die Hauptursache ist wohl, ähnlich wie Deuschland, in der zunehmenden Entfremdung der katholischen Kirche von der Lebenswirklichkeit zu suchen. Wer schert sich denn wirklich um die katholische Sexuallehre? Wen kümmert es, was alleinstehende alte Männer in Frauenkleidern zu Ehe & Familie zu sagen haben? Kirche findet statt bei der Taufe, bei der Hochzeit und bei der Beerdigung. Das war´s dann aber auch schon. Feierabend.

Wenn diese Umstände noch nicht reichen, den schwindenden Einfluss der heiligen römisch-katholischen Kirche in Brasilien zu erklären, dann tun die Nachrichten über sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendliche durch Priester in Deutschland, Irland, den USA, aber auch in Brasilien ein Übriges.


Ja, auch Brasilien ist von solchen Verbrechen leider nicht ausgenommen. Landesweit bekannt wurde der Fall eines Priesters, der 2001 und 2002 Kinder im Alter von 13 und 5 (!) Jahren missbrauchte. 2005 kam es zum Prozess. Eine Richterin schickte ihn für knapp 15 Jahren hinter Gitter. Das ist doch mal ein Wort.


Ein Drama, welches den Exodus aus der katholischen Kirche sicherlich noch zusätzlich beschleunigt hat, ereignete sich Anfang 2009 in der Gegend von Recife, im Nordosten Brasiliens. Dort wurde ein 9-jähriges Mädchen von ihrem Stiefvater vergewaltigt. Das kleine Mädchen wurde schwanger. Die behandelnden Ärzte sahen die Schwangerschaft für dieses Kind als lebensbedrohliches Risiko an und nahmen – Gott sei Dank – eine Abtreibung vor. Daraufhin wurden die Ärzte sowie die Mutter des Mädchens – und nicht etwa der Stiefvater – vom Herrn Erzbischof José Cardoso Sobrinho exkommuniziert. Dessen wörtliche Begründung: Abtreibung ist eine schlimmere Sünde als Vergewaltigung.


Papst Benedikt XVI. trägt seinen Teil zum Niedergang bei, indem er Südamerika weitgehend ignoriert. So muss es nicht weiter verwundern, dass die katholische Kirche in Brasilien den Rückwärtsgang eingeschlagen hat. Die Ausnahme, welche die Regel bestätigt, heißt Marcelo Rossi, seines Zeichens ein charismatischer Priester in São Paulo, dessen Gottesdienste von mehreren zehntausend Menschen besucht werden. Doch Marcelo Rossi ist für die meisten Brasilianer weit weg.


Und so hat sich nach der oben zitierten Untersuchung bereits jeder vierte in Brasilien einer der vielen evangelisch Kirchen angeschlossen.


Im brasilianischen Sprachgebrauch verwendet man den Ausdruck „igrejas evangélicas“, also „evangelische Kirchen“, während man im Deutschen zwischen „evangelisch“ und „evangelikal“ unterscheidet. Evangelische Kirchen umfassen jene Religionsgemeinschaften, welche sich in der Tradition der Reformation sehen. Evangelikale Kirchen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Bibeltreuheit aus. Diese Charakterisierung lässt ganz offensichtlich Überlappungen zu. So gehören in Deutschland etwa verschiedene evangelikale Kirchen den evangelischen Landeskirchen an.


In Brasilien werden die „igrejas evangélicas“ von offizieller Seite eingeteilt in solche, welche missionieren („igrejas de missão“) und jene, welche in der Pfingstbewegung ihren Urpsrung haben. Die erste Gruppe umfasst die eher traditionellen Protestanten, also Lutheraner, Presbyterianer, Methodisten und Batisten.


In der zweiten und weitaus größeren Gruppe konzentrieren sich die Gläubigen auf zwei Schwergewichte: Die „Assembleia de Deus“, die „Versammlung Gottes“ sowie die „Igreja Universal do Reino de Deus“, die „Universelle Kirche vom Reich Gottes“. Daneben gibt es eine unübersehbare Zahl von kleineren Kirchen, die oft nur an einem einzigen Ort aktiv sind.


Die größte Sichtbarkeit in Campo Grande hat – mit über 50 „Zweigstellen“ – zweifellos die „Igreja Universal do Reino de Deus“, die „Universelle Kirche des Reichs Gottes“. Der größte Versammlungsort, ein Tempel von kolossalen Ausmaßen in zentraler Lage, bietet etwa 4.000 Menschen bequem Platz.


Diese Kirche, mit ihrem Gründer und selbst ernannten Bischoff Edir Macedo an der Spitze, ist in den letzten Jahren mehrfach in die Kritik geraten wegen angeblich zweifelhafter Praktiken im Umgang mit den Gläubigen und deren finanziellen Mitteln. In einem heimlich aufgenommenem und bei YouTube veröffentlichtem Video erklärt Macedo seinen Mitarbeitern, wie sie auch in Zeiten der Krise die Spendenfreudigkeit der Gläubigen aufrechterhalten können.


Die von der katholischen Kirche im Mittelalter praktizierte Methode, mit Hölle und ewiger Verdammnis zu drohen, wenn man nicht – durch Zahlung einer entsprechenden Gebühr – den Ablass seiner Sünden erkauft, greift in Brasilien nicht. Brasilianer sind durch auf das Jenseits gerichtete Drohungen nicht zu motivieren. Vielmehr geht die „Story“ dieser Kirche ungefähr so: „Widme Dein Leben der Kirche, spende fleißig und reichlich, und Dein Leben wird sich zum Besseren wenden. Wenn Du also Dich weigern solltest, mit finanziellen Beiträgen das große Werk der Kirche zu unterstützen, so wird Gott einen anderen auserwählen, um zu helfen. Und Du bist raus. Wenn Dein Leben dadurch den Bach runter geht – Du hast es nicht anders gewollt.“


In diesem Video kommt ein ehemaliger Vertrauter des Kirchengründers Macedo zu Wort, welcher darlegt, dass es mittlerweile einzig und allein darum gehen würde, den Gläubigen möglichst viel Geld abzunehmen. Die eigene Kirche als lukrative Geschäftsidee.


In kleinerem Maßstab findet man nahezu an jeder Ecke eine lokale, unabhängige evangelikale Kirche, die dem jeweiligen Pastor dank der Spenden der Gläubigen sein Auskommen sichert.


Die älteste und mit über 8 Millionen zugleich mitgliederstärkste jener Kirchen ist die „Assembleia de Deus“, der brasilianische Ableger der US-amerikanischen „Assembly of God“. Im nächsten Jahr wird es 100 Jahre her sein, dass die ersten US-amerikanischen Missionare auf brasilianischem Boden ihre Gottesversammlungen errichteten. Auch dieser Kirche wird vorgehalten, dass es ihr weniger um das Seelenheil als mehr um den Inhalt des Portmonnaies der Gläubigen gehe, genährt durch Berichte über beachtlichen Reichtum der geistlichen Führer.


All diese kritische Berichterstattung tut dem Erfolg dieser Kirche jedoch keinen Abbruch. Das Erfolgsgeheimnis scheint nämlich darin zu bestehen, dass die Führer der evangelikalen Kirchen erkannt haben, was die Menschen Botschaften hören wollen: Botschaften, welche ihnen helfen, an sich selbst zu glauben. Folgerichtig wird ganz stark mit positivem Denken gearbeitet. „Du kannst das. Du schaffst das. Gott ist mit Dir.“


Nun mal ehrlich: Wenn ich die Wahl habe zwischen „Wenn Du sündigst, wirst Du in der Hölle schmoren!“ und „Glaub an Dich, weil Gott an Dich glaubt! Du kannst Großes vollbringen, weil Gott Großes mit Dir vorhat.“ – wie werde ich mich wohl entscheiden? Und wenn es in meinem Leben dadurch voran geht, dann ist mir das doch durchaus einen kleinen Unkostenbeitrag wert.


Die „Igreja Universal“ mit ihren brasilienweit gut 2 Millionen Mitgliedern nimmt, laut dem brasilianischen Finanzministerium jährlich etwa 1,4 Milliarden Reais, aktuell etwa 630 Millionen Euro ein. Das ist zwar einerseits viel Geld. Andererseits jedoch, pro Gläubigem und Jahr aber Macht mit 300 Euro dann doch eher nur ein Trinkgeld, verglichen mit der deutschen Kirchensteuer. Zur Erinnerung: 8% (Baden-Württemberg und Bayern) bzw. 9% (restliche Bundesländer) der Einkommensteuer.


Doch dann ist da jenes Unbehagen, welches verursacht wird durch Berichte wie diesen: In der vergangenen Woche kettete sich eine verzweifelte Mutter sieben Stunden lang an den Zaun der „Catedral da Fé“, der „Kathedrale des Glaubens“, des zentralen Tempels der „Igreja Universal“ hier in Campo Grande, um gegen die Methoden dieser Kirche zu protestieren. Ihr 17-jähriger Sohn lebe seit zwei Jahren nur noch für die Kirche. Seine Arbeit habe er aufgegeben, um von morgens bis abends Geld für die Kirche zu sammeln.


Dies darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass evangelikale Kirchen auch viel Gutes bewirken, in sozialen Projekten mit bedürftigen Kindern und Jugendlichen oder auch mit Índios. Wie so oft im Leben ist auch hier das Bild nicht einfach schwarz oder weiß, sondern reich an Facetten.


Und dann wären da noch die Spiritisten („Espíritas“), also jene, welche Geister beschwören, damit diese sich mit Hilfe eines Mediums mitteilen. Das hat ja erst mal nichts mit Religion zu tun. Die brasilianischen Spiritisten folgen jedoch hauptächlich der Lehre des Franzosen Allan Kardec, eines Schülers des Pädagogen Pestalozzi, welcher im neunzehnten Jahrhundert der spiritistischen Lehre ein theoretisches Fundament gab. In seinem Werk „Buch der Geister“ beantwortet er mehr als eintausend Fragen rund um Geistwesen. Mehr als zwei Millionen Brasilianer sind Anhänger dieser Lehre, des „Kardecianismus“ („kardecismo“). In zahlreichen brasilianischen Städten findet man nach ihm benannte Straßen („Rua Allan Kardec“).


Kardec hat die christliche Ethik, insbesondere auch die Zehn Gebote in seine spiritistische Lehre integriert. Daher verstehen sich die brasilianischen Spiritisten auch als Christen, nur halt jenseits der katholischen und evangelischen Konfessionen. Auch hier in Campo Grande findet man zahlreiche „Centros Espírita“. Dort werden unter anderem spiritistische „Operationen“ vorgenommen, um körperliche Gebrechen zu behandeln. Es fließt dabei keinerlei Blut. Stattdessen werden Geister angerufen, die helfen sollen, die spiritistische Seite des Patienten wieder ins Lot zu bringen, auf dass diese sich heilend auswirke auf die körperliche Verfassung. Hier geht es nun definitv nicht ums Geld. Für derartige Dienstleistungen wird keinerlei Honorar erhoben, lediglich freiwillige Spenden werden akzeptiert.


Wer bei diesem reichhaltigen Glaubensangebot noch immer nicht das Richtige gefunden hat, für den stehen noch ausgewiesene Wunderheiler bereit, wie etwas der selbst ernannte „Apostel“ Valdemiro Santiago, Gründer und Chef der „Weltkirche der Macht Gottes“ („Igreja Mundial do Poder de Deus“). Etwa zwanzig Jahre lang war er für die oben erwähnte „Igreja Universal“ tätig, bevor er sich 1998 glaubenstechnisch selbstständig machte. Sein Kirchenunternehmen verfügt inzwischen über mehr als 1.000 Filialen, sog. Tempel, im ganzen Land.


Für diese Woche hat er hier in einen großen Park am Stadtrand zu einer “Großen Zusammenkunft des Glaubens und der Wunder“ eingeladen. Auf dem Einladungsplakat wird auch gleich der „Beweis“ mit geliefert. Ein Gläubiger hält einen Zettel hoch und verkündet, dass hier in unserem Bundesstaat ein Blinder nun wieder sehen kann. Ein Wunder also. Mit der Rechtschreibung hapert es zwar noch ein bisschen, aber das wird sicher auch noch.


Und die Moral von der Geschicht´? Auch in Brasilien ist es nicht leicht, den richtigen Weg ins Himmelreich zu finden. Ach Gott.

Dienstag, 11. Mai 2010

Dienstag, 11. Mai 2010

BONITO

Besuch aus Deutschland. Endlich. Nach unserer Rückkehr nach Deutschland wird man uns ja fragen, ob wir Besuch von dort bekommen. Nun also können wir ohne zu zögern antworten mit einem „Klar doch! Logisch!“. Unsere Freunde haben den weiten Weg auf sich genommen. Zwölf Stunden von Frankfurt nach São Paulo, weitere anderthalb bis Campo Grande.


Wir wissen Besuch der beiden ganz besonders zu schätzen. War doch wenige Tage vor ihrer Abreise die isländische Vulkanwolke das alles beherrschende Thema. In Deutschland. Eine Woche später kräht kein Hahn mehr danach. Schall und Rauch.


Vor ihrer Abreise fragen sie uns, was sie uns denn aus Deutschland mitbringen sollen? Tja, äh, hmm. Ja, eigentlich – danke für das Angebot. Fehlt uns wirklich nichts aus Deutschland? Vor sechs Monaten wäre die hiesige Knoblauchpresse, welche den Knoblauch nur sehr unzureichend zerkleinert, ein Thema gewesen. Inzwischen: Lappalie. Ein Erdinger Weißbier vielleicht! Geht aber nicht. Im Handgepäck nicht erlaubt, im Koffer ein explosives Risiko. Danke, wirklich sehr nett, wir haben hier wirklich alles.


Natürlich wollen wir unseren Freunden das Beste zeigen, was die Gegend hier zu bieten hat. Wir nutzen die Gelegenheit für einen Besuch in Bonito. Das Wort „bonito“ bedeutet „schön“. Und so ist die Gegend um diese Stadt. Ein grandioses Naturparadies, gesegnet mit zahlreichen fischreichen Flüssen voller kristallklaren Wassers, verschwenderisch ausgestattet mit unzähligen kleineren und größeren Wasserfällen.


Dieses touristische Ziel ist sehr gut erschlossen – in ökologischer und nachhaltiger Weise, wie stets betont wird – und in ganz Brasilien bekannt. In der Hauptreisezeit, also im Dezember und Januar, müssen auch die Brasilianer rechtzeitig im Voraus reservieren, auch wenn dies ihrer Spontaneität eigentlich zuwider läuft. Nicht nur Hotel oder Pousada wollen gebucht werden, sondern auch die gewünschten „passeios“, also die Ausflüge und Aktivitäten, die man dort unternehmen möchte. Und davon gibt es zahlreiche. Wandern, Baden, Schwimmen, Reiten, Höhlenbesuche mit oder ohne Abseilen etc.


Die Teilnehmerzahl pro Tag pro Aktivität ist begrenzt. Ergebnis einer Vereinbarung zwischen den lokalen Anbietern, der Stadtverwaltung und der Umweltbehörde. Der Tourist und die Touristin werden umfassend mit Kartenmaterial und Infomaterial ausgestattet, so dass er oder sie weiß, was ihn oder sie erwartet. Eine Handvoll Agenturen („agências“) wickeln die Buchung ab. Sie sorgen dafür, dass ihre Kunden zur richtigen Zeit mit der richtigen Ausstattung am richtigen Ort sind.


Noch haben wir jedoch 300 Kilometer vor uns. Der Kalender zeigt unmissverständlich Herbst an. Dieser Umstand hat zur Folge, dass es um 6 Uhr abends bereits dunkel ist. Wirklich dunkel. Stockdunkel. Rabenschwarz. Um diese Zeit will man dann gerne schon angekommen sein. Wir drängen zum zügigen Aufbruch, als unsere Kinder von der Schule zurückgekehrt sind. Schon halb zwei. Das wird knapp.


Für die dreihundert Kilometer müssen wir viereinhalb Stunden veranschlagen. 75 km/h im Durchschnitt plus eine halbe Stunde Pause in Sidrolândia. Dort gibt es nämlich ein besonders gutes „Pão de Queijo“. Das muss man einfach mitnehmen.


„Pão de Queijo“ heißt wörtlich „Käsebrot“. Diese wörtliche Übersetzung ist aber in keiner Weise geeignet, die unwiderstehliche Anziehungskraft dieser brasilianischen Leckerei auch nur annähernd zu beschreiben. Ein gutes „Pão de Queijo“ kann ein Stimmungstief mit einem einzigen Bissen vergessen machen. Das Wohlbefinden, welches sich nach dessen Verzehr einstellt, ist einzigartig. Das „Pão de Queijo“ kommt ursprünglich aus Minas Gerais, ist aber heutzutage in ganz Brasilien bekannt und beliebt. Hier in Mato Grosso do Sul, Grenzregion zu Paraguay, ist die Variante namens „Chipa“ weit verbreitet. Der Unterschied liegt weniger im Geschmack als mehr in der Form. Während „Pão de Queijo“ in rundlicher Form („Käsebällchen“) zubereitet wird, kommt die „Chipa“ in Gestalt eines Hufeisens daher.


Also Halt in Sidrolândia. Wir versorgen uns mit den kulinarischen Köstlichkeiten. Zum Mitnehmen. Weiter geht’s. Die Sonne senkt sich schnell. Das Abendlicht hat einen ganz besonderen Reiz. Die Landschaft strahlt plötzlich ganz intensiv. Wir aber sind erfahren und kennen diesen Trick. In Wirklichkeit heißt das, dass es ruckzuck dunkel wird. Erfahrung zahlt sich auch. Wir geben Gas. Das heißt Alkohol. Die umweltfreundliche Alternative zu Benzin.


Wir schaffen es nicht ganz. Die letzte halbe Stunde des Weges tappen bzw. fahren wir im Dunkeln. Vergeben und vergessen, als wir unsere Pousada erreichen. Ein großzügiges Ambiente mit einer schnellen Erholungsrate. Schwimmbad, Fischteich, Tennisplätze, Fitnessgeräte. „Recanto dos Pássaros“, „Eine Rückzugsecke für Vögel“, so der Name unserer Pousada.


Unsere Gastgeber heißen Oshiro und Shizuru. Japanische Einwanderer gibt es ja viele in Brasilien. Die Besitzer unserer Pousada sprechen auch noch japanisch. Er, Oshiro, wuchs in Brasilien auf, ging dann zurück nach Japan, heiratete seine Frau Shizuru und überzeugte sie davon, die Enge Japans gegen die Weite Brasiliens einzutauschen. Sie folgte ihm. Vor gut zehn Jahren eröffneten sie ihre Pousada in Bonito. Und sind immer noch dort.

Sie empfangen uns mit der möglicherweise weltweit einzigartigen Herzlichkeit, die der Mischung aus brasilianischer und japanischer Mentalität entspringt.


Die Pousada liegt abseits der Hauptstraße, verfügt deshalb aber über ein wesentlich größeres Areal. Größere Zimmer, größerer Parkplatz, ein Fischteich, zwei Tennisplätze. Das passt. Wir bleiben und fühlen uns wohl.

Der Ruf nach Abendessen wird laut. Wie wohl überall auf der Welt werben die Restaurant in der der Hauptstraße besonders intensiv und farbenträchtig für ihre Angebote. Mich dagegen zieht es in die weniger beleuchteten Seitenstraßen. Bei unserem ersten Besuch, Ende 2008, gab es da ein familiäres Lokal, in dem wir zweimal sehr gut gespeist haben. Ich will zumindest wissen, ob diese Art von Qualität Bestand hat.


Sie hat. Das Restaurant „Bom Tempero“ („Gutes Gewürz“) existiert nach wie vor. Eine Speisekarte gibt es nicht. Wozu auch? Es gibt ja nichts auszuwählen. Der Hausherr bietet ein Essen an. Entweder wir nehmen das – oder eben nicht. Er gibt bereitwillig Auskunft über das Angebot an diesem Abend. Wir bleiben. Das Essen, bestehend aus Reis, Bohnen, gebratenem Fleisch, Nudeln und Salat, lässt keine Wünsche offen.


Unser Gastgeber offenbart auf Nachfrage, dass er früher als Ingenieur arbeitete und Brücken baute. Irgendwann jedoch folgte er seiner Frau in dem Wunsch, ein eigenes Restaurant zu eröffnen. „O amor é lindo.“, sagen die Brasilianer dazu. „Die Liebe ist wunderbar.“


Das Kreuz des Südens ist an diesem Abend besonders gut auszumachen. Keine Wolke trübt den Sternenhimmel. Das sieht gut aus, sogar sehr gut für unser Vorhaben am nächsten Tag.


Frühstück um sieben Uhr. Das Frühstücksbuffet breitet zahlreiche Köstlichkeiten vor unseren Augen und Geschmacksnerven aus. Erst Obst und verschiedene frisch gepresste Säfte, dann süße Teilchen, gefolgt von Rührei. Oder doch in umgekehrter Reihenfolge? Entscheidungen, mit denen jeder allein zurückbleibt. Im Ergebnis sind wir alle, unabhängig von der Verzehrreihenfolge, gut genährt und bester Laune für die Unternehmung des Tages.


„Estância Mimosa“ lautet unser Ziel. Es handelt sich um ein etwa 10 km2 großes Anwesen, etwa 25 km von der Stadt Bonito entfernt. Da die Straße nicht asphaltiert ist, müssen wir mit einer gute halbe Stunde Fahrt rechnen. Vorher müssen wir in einer „agência“ noch die Tickets kaufen. Um 9 Uhr werden wir am Zielort erwartet.


Das schaffen wir. Wir werden gewohnt freundlich empfangen und zuerst einmal zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Ein zweites Frühstück. Kann ja nicht schaden. Ein älteres Ehepaar aus Porto Alegre, der südlichsten Großstadt Brasiliens, gesellt sich zu uns. Siehe da, er spricht deutsch. War mal tätig für Siemens in Karlsruhe. Vor vielen Jahren. 1958.


Unser Guide („guia“) namens Wagner stimmt uns ein auf das, was kommt. Eine Wanderung durch den Wald, immer in der Nähe des „Rio Mimoso“. Dabei sollen wir insgesamt acht Wasserfälle zu Gesicht bekommen. Fünf davon mit Badevergnügen, drei nur zum Anschauen („contemplação“). Mit anderen Worten: Gleich mal Badekleidung überstreifen, dazu – wenig kleidsam, aber außerordentlich nützlich – Schuhe, wie auch der Taucher sie verwendet. Ein Zugeständnis an den felsigen und zum Teil scharfkantigen Untergrund. Es kann losgehen.


Wir haben großes Glück mit dem Wetter. Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein – bestes Herbstwetter bei geschätzten 30 Grad. Der erste Wasserfall lässt nicht lange auf sich warten. Einer „zum Anfassen“. Worauf warten wir noch. Gut, das Wasser ist frisch. Geschätzte 23 Grad. Der Genuss ist jedoch ungetrübt. Etwa 25 Meter sind schwimmend zu überwinden bis zum Wasserfall („cachoeira“).


Ein köstlicher Genuss. Das frische, klare Wasser ist eine Wohltat. Der Wasserfall ist schnell erreicht. Geplagte Rücken werden auf ganz natürliche und sanfte Weise vom herabstürzenden Wasser massiert und revitalisiert. Hinter dem Wasservorhang versteckt sich eine kleine Grotte. Die Tauschschuhe erweisen sich als außerordentlich hilfreich auf dem felsigen Untergrund. So kann es weitergehen.


Und es geht so weiter. Ein Wasserfall schöner als der andere – von berauschender Schönheit im wahrsten Sinne des Wortes. An einer Stelle können sich Wagemutige aus sechs Metern Höhe in die Tiefe stürzen. Hinreichende Wassertiefe garantiert.


Von Wagner erfahren wir, dass das Anwesen vor etwa zehn Jahren den Besitzer wechselte. Der Vorbesitzer versuchte, das vielfältige Holz der Bäume zu Geld zu machen. Der aktuelle Eigentümer erkannte dagegen die Chancen des Tourismus. Der Erfolg stellte sich ein. Der Ertrag ist um ein Vielfaches größer und fließt noch dazu nachhaltig. Touristen wachsen schneller nach als Bäume.


Auch hier ist die Besucherzahl begrenzt. Täglich werden maximal 12 Gruppen mit höchstens 12 Teilnehmern empfangen. Wie schön, dass die Vernunft über den Wunsch nach schnellem Profit gestellt wird.


Nach gut drei Stunden Wander- und Badevergnügen sind alle zufrieden und bereit für ein reichhaltiges Mittagessen („almoço“). Im Preis inbegriffen. Ein überbordendes Buffet mit allem, was die Region zu bieten hat, erwartet uns bereits. Und das ist ganz schön viel. Fleisch von Rind, Schwein, Lamm, Geflügel, dazu Reis und Bohnen, Salate und etwa ein Dutzend verschiedene Desserts. Unsere Gastgeber meinen es sehr gut mit uns. Am Ende der Mahlzeit erfasst mich diese leichte Melancholie, resultierend aus der bitteren Erkenntnis, dass ich leider nicht noch mehr essen kann.


Nach solch einem Erlebnis für alle Sinne braucht man Ruhe, um all diese vielen Eindrücke auf sich wirken lassen zu können. Die Hängematte ist dafür der ideale Ort. Auch wollen Kräfte gesammelt werden für das Vorhaben am Abend, das „Projeto Jibóia“.


Henrique kommt ursprünglich aus São Paulo, tingelte eine Zeitlang durch die Welt, lebte u.a. in den USA, in Deutschland und Australien. In Berlin verdingte er sich als Unterhalter in S- und U-Bahnen, in Australien entdeckte er seine Passion: Schlangen. Seine Mission: Den Menschen ihre irrationale Angst vor den Schlangen zu nehmen. Während in der Mythologie der Indios die Schlange vielfach als Gottheit verehrt wird, symbolisiert sie in der christlichen alles Böse.


„Jibóia“ ist der brasilianische Name für die Boa Constrictor, auch Königsschlange genannt, eine Würgeschlange, welche in weiten Teilen Lateinamerikas anzutreffen ist. Henrique bietet seinen Besuchern die Möglichkeit, diese elegante Tier aus nächster Nähe kennen zu lernen. Er legt ihnen dar, dass Menschen in dessen Speisekarte keinen Platz haben. Lässig legt er sich und seinen Gästen eine anderthalb Meter lange Boa um den Hals. Das Tier lässt dies mit sich geschehen, macht einen gelangweilten Eindruck.


Dies ändert sich schlagartig, als es zur Fütterung kommt. Das Opfer, eine Maus, wird blitzschnell erwürgt. Der Druck ist dabei wohl dosiert. Die Knochen des Opfers sollen ganz bleiben. Zersplitterte Knochen können der Schlange innere Verletzungen verursachen. Henrique hat noch viel zu tun, werden doch immer noch viele Schlangen aus Angst getötet. Wir wünschen ihm weiterhin viel Erfolg mit seinem Projekt.


Die Liste der möglichen Attraktionen in Bonito ist lang. Darunter sind auch spektakuläre Aktivitäten, wie das Abseilen in einen gut 70 Meter tief gelegenen See in einer Höhle. Adrenalin garantiert. Ein anderes Mal vielleicht.

Wir entscheiden uns für einen Besuch des „Balneário Municipal Rio Formoso“, des „Städtischen Bades“ am Rio Formoso. Hier gibt es keine Schwimmbecken. Der Badegast stürzt sich vielmehr in den Rio Formoso und lässt sich, umgeben von zahllosen Fischen, im kristallklaren Wasser treiben. Gegen eine geringe Gebühr kann man sich eine Schwimmweste ausleihen und mit deren Hilfe die erforderliche körperliche Anstrengung auf ein Minimum reduzieren. Ein unspektakuläres, aber herrliches Vergnügen.


Unser Besuch in Bonito geht zu Ende. Ein herrliches Fleckchen Erde. Wir kommen wieder. Ganz bestimmt. Irgendwann.


KÄLTEREKORD


Konnten wir in Bonito noch strahlenden Sonnenschein und Temperaturen um die 30 Grad genießen, so hat sich eine gute Woche später das Bild drastisch gewandelt. Kaum hatte unser Besuch die Rückreise angetreten, ergriff eine Kaltfront Besitz von uns. Das war so nicht vorgesehen. Brasilien hat gefälligst sonnig und warm zu sein. Das ganze Jahr über bitteschön. Von wegen. Heute Morgen hält Campo Grande den innerbrasilianischen Minusrekord mit 8 Grad Celsius. Tagsüber sollen es gerade mal 16 Grad werden. Zum Glück hält dieses kühle Wetter nicht lange an. In wenigen Tagen soll mit 28 Grad wieder tropische Normalität einkehren.