SAMBA
Anfang der achtziger Jahre besuchte ich in München ein Konzert des brasilianischen Gitarristen, Komponisten und Sängers Baden Powell. Die Wirkung dieses Abends sollte nachhaltig sein. Meine Begeisterung für brasilianische Musik war entfacht und ist es bis zum heutigen Tag geblieben.
Was liegt also näher als meine Zeit in Brasilien auch dafür zu nutzen, mich auf musikalischem Gebiet weiterzubilden? Ich fasse den Entschluss, das Instrument Cavaquinho zu erlernen.
Das Cavaquinho ist fester Bestandteil einer jeden Samba-Formation. Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine Gitarre für Kleinkinder. Trotz der unscheinbaren Größe kommt ihm jedoch eine zentrale Bedeutung zu, da es sowohl das harmonische Fundament liefert als auch den Rhythmus vorantreibt. Und die im Samba verwendeten Akkordfolgen sind wesentlich komplexer als jene drei Akkorde, welche für bayerische Volksmusik oder Rock’n’Roll ausreichen.
Dieses putzige Instrumentchen besitzt 4 stahlharte Saiten, welche von der rechten Hand mit einem Plektron (»palheta«) angeschlagen werden. Und zwar häufig ziemlich schnell, und stets in einem nicht trivialen Rhythmus. Für die linke Hand hat dies zur Folge, dass das Instrument erst dann schmerzfrei bedient werden kann, wenn sich eine ordentliche Hornhaut auf den Fingerkappen herausgebildet hat.
Nun ist brasilianische Musik nicht mit Samba gleichzusetzen. Doch ist der (und bitte nicht: die!) Samba ein wesentliches Element, welches in die allermeisten Stilrichtungen hineinwirkt. Für die Gesamtheit der brasilianischen populären Musik verwendet man den Begriff »Música Popular Brasileira«, kurz »MPB«. Im Unterschied zu dem, was wir etwa in Deutschland als Popmusik verstehen, zeichnet sich MPB durch eine enge Verbindung zur traditionellen brasilianischen Musik aus. Auch wird MPB quer durch alle Alters- und sozialen Schichten gehört. »Volksmusik« im besten Sinne des Wortes also.
Viele der ganz großen Künstler sind seit Jahrzehnten aktiv. Allen voran Roberto Carlos. In Europa ist der gleichnamige Fußballspieler vermutlich besser bekannt. Man kann jedoch getrost davon ausgehen, dass dessen Mutter den Sänger Roberto Carlos sehr verehrte und daher ihrem Sohn den Namen gab. Roberto Carlos hat eine dreistellige Millionenzahl von Alben verkauft. Millionen von Brasilianern, vorwiegend Brasilianerinnen, könnte man nachts um drei wecken, und sie würden einem mindestens ein Dutzend Hits von Roberto Carlos auswendig vorsingen.
Ein wesentliches Merkmal der »Música Popular Brasileira« ist, dass in der Landessprache, also in Portugiesisch, gesungen wird. Dies dürfte auch der wesentliche Grund dafür sein, dass brasilianische Musik in Europa, von Portugal und vielleicht noch Spanien abgesehen, weitgehend unbekannt ist. »Lambada« ist da eher die Ausnahme, welche die Regel bestätigt.
Cavaquinho also. Die Stimmung der Saiten (d’-g’-h’-d’’) ist mit der Stimmung der vier höchsten Saiten einer Gitarre (d-g-h-e’) zu drei Vierteln identisch und erleichtert meiner linken Hand, welche mit der Gitarre vertraut ist, somit die Arbeit.
Eine Herausforderung dagegen ist die Benennung der musikalischen Noten. Im englisch-sprachigen Raum pflegt man ja die musikalischen Noten der C-Dur-Tonleiter (das sind die weißen Tasten auf dem Klavier) mit den Buchstaben c, d, e, f, g, a, b, c zu bezeichnen. Deutschland brät insofern eine Extrawurst, als das »b« hier »h« heißt, während das deutsche »b« im Englisch »b flat« genannt wird. Details.
Im romanischen Sprachraum jedoch, also auch in Brasilien, ist es wieder anders. Hier sind die Bezeichnungen Do-Re-Mi-Fa-So-La-Si-Do üblich. Als international agierender Musiker muss man halt geistig flexibel sein.
Während der Entschluss, dieses Instrument zu erlernen, in mir noch im Reifen begriffen ist und ich ausführlich das Für und Wider gegeneinander abwäge, schafft meine Frau Tatsachen. Sie begibt sich in ein Musikinstrumentengeschäft, lässt sich die Telefonnummer eines Lehrers für Cavaquinho geben, kehrt nach Hause zurück, ruft diesen augenblicklich an und reicht mir den Hörer. Äh, wer? Ach so, hallo, ja, tudo bem? Ok, alles klar. Dann bis Dienstagabend. Er heißt Luis.
Es ist Dienstagabend. Ich klingle an der angegebenen Adresse. Nichts passiert. Ich drücke abermals den Knopf. Eine Frau öffnet, ich erkläre mich, sie weist nach hinten, auf die Veranda, zu den anderen und ruft mir noch nach, dass die Tür doch immer offen sei. Ach so.
Die anderen, das sind fünf Schüler und ein Lehrer. Der Lehrer ist derjenige, welcher als einziger kein Cavaquinho, sondern eine Sambatrommel, ein sogenanntes »tantã« auf dem Schoß hält.
Er begrüßt mich mit dieser wunderbaren brasilianischen Freundlichkeit, die mit einem einzigen Lächeln und ganz ohne Worte eine ganze Botschaft vermittelt: »Komm herein, sei uns willkommen, fühle Dich wie zuhause, entspanne Dich, wir freuen uns, dass Du da bist, sei einfach Du selbst, ich habe nicht viel anzubieten, aber das Wenige will ich gerne mit Dir teilen.«
Ich nehme diese Einladung gerne an und setze mich in die Runde. Luis sitzt im Rollstuhl. Außerdem wollen die Finger seiner rechten Hand nicht mehr so recht. Das Instrument, das er unterrichtet, kann er selbst seit vielen Jahren nicht mehr spielen. Autounfall.
Das tut der Qualität des Unterrichts keinerlei Abbruch. Ein guter Lehrer unterrichtet seine Schüler schließlich nicht dadurch, dass er das zu Erlernende vormacht. Ich hatte mal eine Klavierlehrerin, die spielte in all den Jahren während meiner Unterrichtsstunden keine einzige Note. Eigentlich weiß ich gar nicht, ob sie überhaupt Klavier spielen kann.
Zurück zu Luis. Sein Unterricht ist eine gruppendynamische Meisterleistung. Bei ihm gibt es keinen Einzelunterricht. Es sind immer drei, vier, fünf Schüler anwesend. Luis widmet sich im Wechsel den Einzelnen, bittet mitunter die Fortgeschrittenen, den Anfängern etwas zu zeigen.
Zwischendurch wird immer wieder in der Gruppe gespielt. Der Meister sagt dazu an, was zu spielen ist, gibt mit seiner Trommel Tempo und Takt vor, singt dazu – mal Text, mal Akkordsequenzen, unterbricht bei falschen Tönen, korrigiert, spricht seine Schüler mit »professor« an. Mit einem Wort: Der Unterricht ist ein einziges »Happening«.
Der Rhythmus. Die einfachste Variante für mich, den Anfänger ist die Folgende. Sei »ta« ein betonter Abschlag und »ki« ein unbetonter Aufschlag, jeweils vom Wert einer Sechzehntelnote. Dann geht das wie folgt ab: ta-ta-ki-ta-ta-ki-ta-ki-ta-ki-ta-ki-ta-ta-ki-ta-ki-ta-ki-ta-ta-ki etc.
Man muss es halt ein paar tausend Mal üben, schon geht es ganz locker von der Hand.
Luis unterrichtet auch schon mal Jugendliche, die kein Geld für den Unterricht haben. Schließlich ist es besser, wenn sie Musik machen als auf der Straße herumlungern.
Im Moment aber braucht Luis selbst Hilfe. Genau genommen seine 82-jährige Mutter. Die alte Dame ist krank und braucht eine spezielle Behandlung, welche sie selbst bezahlen muss. Da könnte man nun jammern und wehklagen und über das Gesundheitssystem lamentieren.
Weil dies aber die Situation in keiner Weise verbessern würde, wird stattdessen beschlossen, alle Freunde und Bekannte für Sonntagmittag einzuladen, ein einfaches Essen zu reichen, dafür einen etwas höheren Preis zu verlangen mit dem Hinweis, dass der Erlös dem guten Zweck zu Gute kommt.
So treffen sich die »Amigos do Luis« im Innenhof einer örtlichen Sambaschule. Luis muss ein glücklicher Mensch sein, denn er hat offenbar viele Freunde. Etwa zweihundert sind gekommen, um mit ihrem Obolus die kranke Mutter zu unterstützen.
Der geräumige Innenhof beherbergt mehrere große blühende »Paineiras«. Das sind große breitkronige Bäume, welche angenehmen Schatten spenden und im Deutschen den sperrigen Namen »Florettseidenbaum« tragen. Meine Frau weist daraufhin, dass wir uns quasi in einem brasilianischen Biergarten befinden. Das ist eine sehr treffende Bemerkung, die aber eigentlich von mir kommen hätte müssen.
Natürlich gibt es Samba. Live und handgemacht. Man unterhält sich und freut sich des Lebens und ist optimistisch, dass die alte Senhora wieder genesen wird.
Nebenbei trifft meine Tochter Deborah ihre Lieblingslehrerin Arlete. Sie ist Luis‘ Schwester. Die Welt ist auch in Campo Grande ein Dorf.
Zweimal die Woche, mittwochs und freitags, melde ich mich gegen 19 Uhr zuhause ab. Die folgenden zwei bis drei Stunden geht es um Samba. Wir machen Musik, in den Pausen unterhalten wir uns über Gott und die Welt. Und dabei gibt es immer ordentlich zu Lachen. Luis hat sich seine Lebensfreude nämlich nicht nehmen lassen – körperliche Beeinträchtigung hin oder her. Dafür hat man Familie und Freunde, die einem helfen.
An diesen Abenden lerne ich nun also das Instrument Cavaquinho. Und noch Vieles mehr. Morgen wieder.